Es kam, wie es kommen musste. Der Algorithmus. Eine Handlungsvorschrift, die sequentiell, also nacheinander abgearbeitet wird, um ein Problem zu lösen bzw. eine Aufgabe zu erfüllen, wird zum Spielball der Dichter und Denker. Als Miriam Meckel darüber geschrieben hat – und nichts anderes fand als die fade recommendation engine aus dem eCommerce – war es mir der Mühe zu gering, darauf zu antworten. Als aber nun die geschätzte Kathrin Passig in der SZ sich bemüßigt sah, auf die am Boden argumentierende Meckel auch noch einzuschlagen, da wurde der Beschützerinstinkt in mir geweckt…
Liebe Kinder und Kinderinnen, es ist nicht an dem. Ich freue mich ja, wenn normale Leute sich mit mathematischen Verfahren abmühen oder zumindest deren ingenieursmäßige Ausbeutung in der Informatik betrachten. Aber mal unter uns: Tausende Sachbearbeiter in Banken und Versicherungen wurden entlassen, weil die automatische Posteingangsbearbeitung und Klassifikation die Schadensbearbeitung und viel trivialere Aufgaben in wenigen Jahren in die Hände von Robotern legten. Der Hochfrequenzhandel ist ein dicker Brocken bei der Ursachenforschung rund um die Finanzkrise. Und Überwachung im großen Stil geht ohne algorithmische Textanalyse gar nicht mehr. Manche können sich ja bis heute nicht vorstellen, dass der Einzug der Roboter in der Industrie nur ein Fliegenschiß war gegenüber dem, was in der Dienstleistungswelt passiert und noch passieren wird. Da war das sarkastische Wort vom Bildschirmrückseitenberater von Günter Dueck auf der re:publica nur ein geschniegelter Anfang der Entlassungswelle, die schon länger durch den dritten Sektor rollt. Und alle die mit ihm darüber gelacht haben, werden sich noch umschauen, was es heißt, wenn die IBMs und HPs dieser Welt die Arbeitswelt vollständig umgekrempelt haben, auf dass nur noch Experten und 400-EURO-Jobber übrig bleiben.
Eine Recommendation Engine steckt in jeder Suchmaschine, die den Namen verdient und analysiert das Bedienerverhalten und optimiert daraufhin seine Ergebnislisten, was Eli Pariser zu der so schönen wie falschen Annahme verleitet hat, dass wir alle im Web in einer Filter Blase vegetieren. Wir tun das sowieso schon immer in der Medienwelt, weil sie eine vermittelte Welt ist. Das eigentliche Problem, das er gar nicht erkannt hatte und das hier weder bei Meckel noch bei Passig auftaucht, ist die Frage, wie wir vernetzte Informationen überhaupt sinnvoll einsetzen können – und zwar in bezug auf aktuelle und künftige Aufgaben.
Denn unser Gehirn filtert freundlicherweise fast alle aktuellen Informationen aus. Die Intuition behandelt die Gegenwart und reagiert, das Bewußtsein ist nur für die Planung, also die Zukunft zuständig. Philosophen und Neurowissenschaftler behandeln im Zuge des Libet-Experiments dieses selbe Problem mit der unzureichenden Frage nach dem freien Willen. Es geht aber nur um Gegenwart und Zukunft. Und das ist auch der Kern bei den Algorithmen. Würden wir im Web frei agieren, gäbe es keine Vorbehalte gegenüber den unsichtbaren Regelwerken. Aber im Web wird unser zukünftiges Handeln extrapoliert, nachdem unsere Intuition die Software der Webdienste mit Daten über unser unbewusstes und vorbewusstes Entscheiden füttert. Die reflektierende Ebene ist ein Automat geworden.
Die Vorwürfe der Kulturjournalisten gegenüber den Algorithmen sind bisher einfach schlecht formulierte und unzureichend durchdachte, aber intutiv richtig erfasste Ängste gegenüber einer Black Box, also einem unkontrollierbaren Verfahren namens Algorithmus, das unseren Entscheidungen im Web in einer Schleife Informationen entnimmt und damit neuronale Netze füttert, die ihrerseits die Gestalt und die Inhalte im Web neu strukturieren, um uns angepasster zu sein. Diese Form der gelenkten Evolution ist aber keineswegs eine Selektion, die erwünschte gesellschaftliche Entwicklungen verstärkt. Es geht dabei also nicht um das Abbilden unserer gemeinschaftlichen Schlenker, die wir als soziales Wesen vollführen. Es geht um kommerzielles Verfügbarmachen und Optimieren der Strukturen im Web unter der Knute des Populären. Damit wird der Kern des Web falsch bewertet und vom Wesentlichen abglenkt. Denn das Web ist der erste Kulminationspunkt, in dem eine orale und eine schriftliche Kultur zusammenfallen. Es ist damit die Essenz der letzten Jahrtausende unserer Kulturgeschichte. Der Algorithmus jedoch ist ein Hersteller künstlicher Düfte und Aromen, die uns zu etwas locken sollen. Die Folgen sind unabsehbar für die Gärtnertätigkeit bei geistigen Schöpfungen. Es geht im Zweifel alles das verloren, was uns an unvermittelter Kommunikation bleibt. Im Mindesten wird diese fantastische Hochzeit von Sprach- und Schriftkultur einfach im Optimierungswahn der Werbewelt zu einer Las-Vegas-Hochzeit mit Elvis-Presley-Double und Musik vom Band.
Es geht also darum schlauer zu werden und den Algorithmen auf die Finger zu schauen. Transparenz? Nee, so platt kommt ihr mir nicht davon. Es muss eine Diskussion geben darüber wie unsere Gesellschaft das Web strukturieren und nutzen will. Die Anbieter müssen ihre Pfründe bekommen, meinetwegen Milliarden, aber wir müssen das Erbe der Menschheit pflegen: Sprache und Schrift und nicht zuletzt unser Nachdenken über unsere eigene Zukunft. Und das soll nicht allein an unseren unbewußten Entscheidungen im Web ausgerichtet werden sondern an Visionen, Werten und einem breiten Diskurs.
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Schlagwörter: Algorithmus, Netztheorie, Oralität, Schrift, Sprache, zukunft
2 comments
Hier stecken so viele Ansätze drin (Libet, Theorie der Informationsübertragung …) , aber leider nichts verwertbares. Wann kommt der durchdachte Artikel mit gut formulierter Argumentation?
„Die Vorwürfe der Kulturjournalisten gegenüber den Algorithmen sind bisher einfach schlecht formulierte und unzureichend durchdacht.“
Ob etwas Verwertbar ist, liegt natürlich in den Augen und Fähigkeiten des Betrachters. Was genau meinst Du mit Verwertung? Möchtest Du hier einen 32.000 Zeichen-Artikel lesen oder lieber ein Kondensat eines Buchprojekts auf der Hälfte? Und was soll das leisten?