Das Konzept des Home Office verspricht Arbeitsplatzautonomie und ein bessere Work-Life-Balance, aber das Konzept ist in Deutschland umstritten. Der schöne Traum macht einer bitteren Realität Platz. Selbst wenn die Angestellten bloß in der Nase bohren, Hauptsache, sie sitzen dabei am Platz. Hochautonome Arbeitsplätze, an denen Mitarbeiter eigenständig und ohne hierarchische Zwänge entscheiden, was zu tun ist, also praktische Selbstständigkeit, schreitet auf allen Ebenen voran. Diese Vision verkündete das Wirtschaftsmagazin „brandeins“ vor einigen Jahren. Schon wär’s.
Wenn es um Arbeitszeiten und flexible Arbeitsorte geht, weht in den Fluren der Angestellten-Paläste ein ganz anderer Geist: „Ich will Sie in Ihrem Büro sitzen sehen, wenn ich die Tür aufmache. Nicht mehr und nicht weniger„, lautete die Reaktion eines Chefs, den ein Leser des ichsagmal-Blogs öffentlich machte. Traumhaft, wenn das Arbeitsverhältnis auf so einer Vertrauensbasis aufbaut. Leider kein Einzelfall. Arbeiten in der Cloud, Netzwerkstrukturen, flexible Arbeitszeiten, weniger Stau im elenden Berufsverkehr und Abkehr vom Anwesenheitswahn, den die neue Arbeitsministerin Andrea Nahles fordert, sind wohl nur in kleinen Schritten umsetzbar.
Semantische Stinkbomben
In deutschen Unternehmen, die noch nach der Industrielogik des Fordismus ticken, sieht die Realität anders aus. Da reagiert man eher mit Pawlow’schen Reflexen auf die Initiative der SPD-Politikerin, wie etwa Wirtschaftswoche-Chefredakteur Roland Tichy:
Ohne diejenigen, die sich am Morgen mehr oder weniger begeistert auf den Weg ins Büro, zur Fabrik oder in den Außendienst machen, ohne diese Menschen im Wahn könnte Frau Nahles ihre großzügigen Wahlgeschenke wie die Mütterrenten und die fantastische Rente mit 63 nicht einen Tag lang finanzieren.
Auf welchem Planeten lebt der WiWo-Chefredakteur?
Eine semantische Stinkbombe, die noch den Generaldirektoren-Geist der 1950er-Jahre verströmt. Anwesenheit mit Arbeit gleichsetzen? Auf welchem Planeten lebt Tichy eigentlich?
Er könnte ja mal den Roman in Tagebuchform von Zoé Shepard studieren: „Wer sich zuerst bewegt hat verloren“ – oder die Kunst, in Büros Arbeit vorzutäuschen. Wie man aus jeder Geschäftsreise eine Weiterbildungs-Exkursion macht, aus jeder Notiz einen Bericht zur Projektprüfung, aus jedem Telefonat eine Telefonkonferenz und aus jedem niedergelegten Gedanken ein Strategiepapier.
Formierte Angestellte in formierten Büros
Wir leiden unter einem Anwesenheitswahn, in der Tat. Und der drückt sich auch in Zahlen aus: Einer Zeitreihe zufolge, die das Statistische Bundesamt für die Die Welt erstellt hat, lag der Anteil der abhängig Erwerbstätigen, die „manchmal“ oder „hauptsächlich“ im Homeoffice arbeiten, 2012 bei nur noch 7,7 Prozent. 1996, als die Werte erstmals ermittelt wurden, waren es 8,8 Prozent.
Über die Gründe könne nur spekuliert werden. Vielleicht seien ja die Beharrungstendenzen in der Wirtschaft größer als gedacht. Die Industriegesellschaft habe die Präsenzkultur mit sich gebracht und die könne man nicht so einfach ändern. Das Motto „Ich sitze im Bürohaus, also arbeite ich“ scheint noch in den Köpfen vieler Arbeitgeber herumzuschwirren. Die formierten Angestellten sollen in greifbarer Nähe verharren, um sie unter Kontrolle zu halten – ob sie dabei in der Nase bohren oder irgendwelche Scheintätigkeiten verrichten, spielt keine Rolle.
„Dazu passt, dass in einer repräsentativen Umfrage des IT-Branchenverbands Bitkom aus dem vergangenen Jahr immerhin jeder vierte Arbeitnehmer fürchtet, es werde sein berufliches Vorankommen bremsen, wenn er seine Erwerbstätigkeit nicht unter den Augen seines Chefs verrichtet„, berichtet die Die Welt.
Auf der Suche nach dem Büro-Loser
In Anlehnung an den Shepard-Roman gibt es in manchen Organisationen einen recht merkwürdigen und bizarren Wettbewerb, der selbst in Bundesbehörden vorherrscht:
„Wer zuerst den Firmen-Parkplatz mit seinem Auto verlässt, hat verloren.“ Da wartet man lieber noch ein Stündchen mit einem Tässchen Kaffee in der Hand und schaut aus dem Bürofensterchen, bis sich der erste Angestellte erbarmt und das Bürogebäude verlässt: „Da ist er, der Loser.„
Souveränität in der Arbeitswelt sieht anders aus. Der Wandel vom Konzern-Kapitalismus zur Netzwerk-Ökonomie, wie ihn Christian Papsdorf in seinem Opus „Wie Surfen zu Arbeit wird“ vor einigen Jahren skizziert hat, steht zumindest in Deutschland bei Arbeitgebern und Gewerkschaften nicht auf der Agenda. Die Arbeitskultur verbessert sich durch diese starre Haltung mitnichten. Etwa in der Service-Branche, wie Thomas Dehler, Geschäftsführer von Value5 in Berlin bestätigt:
„Es fällt zunehmend schwerer, die besten Talente an nur einem Ort zu gewinnen. Bei der Rekrutierung von Mitarbeitern hält man sich häufig mit Verlegenheitslösungen über Wasser„.
Konkurrenzdruck in aseptischen Lichtsuppen-Büros
Hinzu kommt, dass Mitarbeiter in Großraum-Büros unter einem enormen Leistungsdruck stehen und häufig mit Ellbogen-Mentalität gegenüber ihren Kollegen reagieren. Teamarbeit und Wissensaustausch bleiben auf der Strecke – auch wenn in der Öffentlichkeit das Gegenteil behauptet wird. Selbst die viel beschworene Trennung von Beruf und Privatleben bleibt mit Smartphone und Co. eine schöne Illusion. Außerhalb der aseptischen Lichtsuppen-Büros bewegen sich die liebwertesten Angestellten-Gichtlinge in der Erreichbarkeitsfalle. Abschalten unerwünscht. Viele Dienstleister reagieren dennoch achselzuckend. Ein Achselzucken, das dem Verbraucher nicht verborgen bleibt.
„Entweder hört er es als Warteschleife, wenn während der Anrufspitzen nicht genügend Berater zur Verfügung stehen. Oder er hört das Achselzucken im Servicegespräch, wenn dürftig motivierte und unzureichend qualifizierte Berater nur unbefriedigende Antworten geben. Und an dieser Stelle bricht sich das Zufriedenheitsversprechen nicht selten das Genick„, betont Dehler.
Sein Unternehmen setzt auf Wort@Home – sozusagen Arbeiten in der Teamwolke. Vernetzung, Cloud Computing und Virtualisierung sind seit 2004 die technologischen Grundlagen für Value5, um elastische und atmende Service-Einheiten zu schaffen.
„Qualität ist keine Frage des Standorts – sondern der Talente. Durch den Abschied vom Standort-Denken gewinnt man die besten Talente dort, wo sie wohnen und leben„, so die Erfahrung von Dehler. Flexibles Arbeiten hat nichts mehr mit der Wirtschaftswunder-Zeit von Ludwig Erhard zu tun. Wäre es nicht viel schöner, Herr Tichy, wenn wir uns um sieben Uhr morgens und fünf Uhr abends über leere Autobahnen und den Abwesenheitswahn beklagen könnten?
Wie es weitergehen könnte in der Arbeitswelt diskutieren wir am 22. Januar bei Bloggercamp.tv in der 11-Uhr-Sendung: „Wenn Unternehmen in der Cloud verschwinden – über Trends der Netzwerk-Ökonomie“.
Dieser Artikel erschien zuerst auf The European.
Image (adapted) „Home office“ by David Martyn Hunt (CC BY 2.0)
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Schlagwörter: Arbeit, beruf, Home Office, vernetzung, Work-Life-Balance