Dirk Baecker ist einer der großen Gesellschaftsdenker dieses Landes: Wenn man den Denker-Hitparaden des Magazins Cicero Glauben schenken möchte. Der Soziologe hat 15 Thesen publiziert, die die nächste Gesellschaft charakterisieren oder gar vorbereiten sollen.
Zur Einführung ins Thema muss man verstehen, dass alle Wissenschaftler, die sich dem Theoriegebäude der Systemtheorie verschrieben haben (so wie Baecker), ihren jeweiligen Untersuchungsgegenstand vollständig in der System-Terminologie auflösen. Dort wo die Romantiker noch eine „gewöhnliche“ Alltagssprache zur Anwendung bringen oder Physiker jedes Detail in grundlegenden nomologischen Termini wie Raum, Zeit, Masse und Energie ausdrücken müssen, dort haben diese System-Wissenschaftler das Werkzeug der Operationen (Handlungen), der Strukturen sowie der Innen- und Außenwelt. Fortgeschrittene Vertreter dieser Zunft lassen noch die Erkläarungsebene der Organisation zu. Das Vorgehensmodell besteht kurz gesagt darin, Entitäten mit Inneren und Äußeren Eigenschaften und Mengen zu umschreiben, die Elemente, Operationen oder Strukturen umfassen. Neben den empirischen Daten erschaffen sie so eine zweite Ebene der qualitativen Mengenlehre in die die einzelnen Objekte zugeordnet werden.
Die erste These Baeckers erscheint zunächst seltsam, da sie weder den Untersuchungsgegenstand, noch den Kontext oder die Veranlassung der Thesen einführt:
(1) Die nächste Gesellschaft unterscheidet sich von der modernen Gesellschaft wie die Elektrizität von der Mechanik. Schaltkreise überlagern Hebelkräfte. Instantaneität erübrigt Vermittlung. Wo der Buchdruck noch auf Verbreitung setzt, rechnen die Computer bereits mit Resonanzen. Die Dynamik der Moderne, die noch als Geschichte, Fortschritt und Dekadenz lesbar war, löst sich in Turbulenzen auf, die nur noch Singularitäten kennt.
Da man ja nun nicht mehr Postmoderne sagen kann ohne an Lyotards mahnende Worte aus dem postmodernen Wissen wie einen vergifteten Pfeil wirken zu lassen, nutzt Baecker also das vermeintlich neutrale Wort „nächste“. Das beinhaltet daher also eine Entwicklung, einen evolutionären Charakter, der die Idee der Linearität freundlich aber bestimmt zugrunde legt. Dann wird in einem vermeintlichen Kniff ein qualitativer Unterschied der beiden linearen Stadien mit den Begriffen Elektrizität und Mechanik beschrieben. Leider wird dabei nicht bedacht, dass die ordinäre Lichtmaschine (Wandelgenerator), mechanische Energie in Strom wandelt. Der Zusammenhang oder der Abgrund zwischen den beiden physikalischen Bereichen sind unterschiedliche Beschreibungsweisen von Energie (kinetisch bzw. elektrisch). Die Antwort auf die Frage, wieso Schaltkreise als funktionale Struktur zum Einsatz von elektrischer Energie die Hebelkräfte als Beschreibungsmodell kinetischer Energie überlagern sollen und was das über Gesellschaft aussagt, bleibt uns Baecker schuldig. Instantaneität (Augenblicklichkeit) soll Vermittlung erübrigen. Was dabei wem vermittelt werden soll bleibt auch unausgesprochen. Da Systemtheorie gern naturwissenschaftliche Begriffe einsetzt, um gesellschaftswissenschaftliche Beobachtungen zu benennen, kommt zum „überlagern“ (Interferenz ist aus der Wellentheorie das zeitliche zusammentreffen zweier Wellen, dies sind wiederum Erscheinungsmodelle für Energie in Form von Lichtwellen oder akustischen Wellen). Auch der folgende Begriff der Resonanz kommt aus dieser Welt und soll den Vorgang der Übertragung beschreiben, die offenbar etwas ganz anderes sein soll als die Vermittlung. Spannend wäre nun, zu erfahren, warum die Vermittlung erübrigt ist und warum statt des Buches nun das virtuelle Papier im Monitor die Resonanz auftauchen lässt. Zu fragen wäre, ob die Vermittlung als Routing aus der Nachrichten- und Datenwelt gemeint ist oder die Vermittlung, die wir als Unterweisung oder Lehre kennen. Und dann erscheint der Begriff der Zeit nicht mehr in der geordneten Form der mechanischen Kräfte (Dynamik) sondern in einem fluidmechanischen Begriff, dem der Turbulenz. Und dass, wo doch im ersten Satz die Mechanik als überkommener historischer Zustand erwiesen hat. Seltsame. Das Ganze scheint wie hermetisches Geraune, das wohl nur die Jünger der Systemtheorie in ihrem semantischen, epistemischen und phänomenologischen Gehalt überprüfen können. Wir normalen Menschen sind da außen vor. Denn es liest sich wie eine poetische Umschreibung eines subjektiven Empfindens des Herrn Baecker angesichts der – aus meiner Sicht ewig andauernden Umwälzungen – in dem Beschreibunsgmodell, das wir Gesellschaft nennen. Leider gibt es immer noch Menschen, die glauben, dass man nur lange genug auf die Karte starren muss, bis man das wirkliche Gebiet in allen Facetten erklären und beschreiben kann. Auch ihnen scheint es noch nicht in den Sinn gekommen zu sein, dass die Dritte-Person-Perspektive der „harten“ Wissenschaften und die Erste-Personen-Perspektive der Menschen einen noch zu klärenden Kontext haben. Solange der im Dunkeln liegt, sind solche Thesen über Beschreibungsmodelle in der nahen oder fernen Zukunft weder faktisch noch theoretisch aussagekräftig oder um es anders auszudrücken: Lieber Herr Baecker, Explanandum und Analysandum ihrer Thesen liegen beide im Bereich wissenschaftlicher Modellbildung. Es ist nett, Thesen über Thesen zu bilden, allein mir fehlt der empirische Bezug, der lebensweltliche Rahmen oder noch präziser der ontologische Grund ihrer Thesen. das wird auch in der zweiten These nicht besser:
(2) Die Kulturform der nächsten Gesellschaft ist nicht mehr das Gleichgewicht, sondern das System. Identitäten werden nicht mehr daraus gewonnen, dass Störungen sich auspendeln, sondern daraus, dass Abweichungen verstärkt und zur Nische ausgebaut werden. Gleichgewichte sind leere Zustände; sie warten auf die nächste Störung. Systeme sind von sich aus unruhig; sie verschwinden, wenn sie keinen Anschluss finden.
Die Behauptung, dass eine Gesellschaft auf einem Gleichgewicht beruht, halte ich für gewagt. Interessant ist, dass an dieser Stelle der Grundbegriff der Lehre der Gesamtheiten (Holismus) namens System, der auch als „Schema“ oder „Lehrgebäude“ verstanden werden kann einfach als Form des Beschreibungsmodells Gesellschaft übergestülpt wird. Das erhöht damit zwar die Impertinenz und Wichtigkeit der Systemtheoretiker, erklärt aber in keiner Weise ihre hervorgehobene Stellung bei dem Verstehensmodell namens Gesellschaft, das wir eingeführt haben, um einen Begriff zwischen die Wörter Gruppe und Masse zu schieben. Denn wenn man den Systemtheoretikern darin folgt, alles auf Biologie und Physik bzw. deren Begriffe zurückzubeziehen, dann ist System nichts Anderes als die Gesamtheit aller in einem Modell zusammengefassten Objekte und Eigenschaften. Der locus classicus der modernen soziologischen Systemtheorie liegt bei Luhmann. Ich schenke mir hier das Eingehen auf seinen Lehrer Parsons, zumal er noch heute seltsamerweise als Strukturfunktionalist gilt:
Von System im allgemeinen kann man sprechen, wenn man Merkmale vor Augen hat, deren Entfallen den Charakter eines Gegenstandes als System in Frage stellen würde. Zuweilen wird auch die Einheit der Gesamtheit solcher Merkmale als System bezeichnet. ( Aus N. Luhmann: Soziale Systeme, 1984)
Es handelt sich also nur um einen Begriff, der eine Beschreibungsebene zusammenfasst. Offenbar sind die Anhänger Luhmanns noch immer nicht dem linguistic turn entwachsen. Es ist sicher sehr hilfreich, analytisch vorzugehen, es war auch eine hilfreiche Annahme, die Sprache als Weltproduzenten zu verstehen. Aber neben den repäsentationalen Inhalten gibt es auch intentionale Gehalte in der Welt und mehr noch im Menschen selbst. Hatte Parsons noch streng an der biologistischen Orientierung entlang evolutionistische Erklärungen abgeliefert zum Zusammenleben der Menschen, hat sich nun offenbar das ganze Begriffswerk auf Repräsentationen von sozialen Menschenhandlungen (Operationen) verlagert.
Es soll also einen einheitlichen Menschen gegeben haben, der im Gleichgewicht mit seiner Umgebung lebte und seine Abweichungen von (dieser, diesen?) Normen als Identität kreiert. Ob dieser Begriff nun streng logisch aufgefasst wird als Merkmalsgleichheit mit diesen Abweichungen oder als die so benannte systemtheoretische Außenwelt der Gesellschaft, also das Werden von Individuum durch Identifzierung, kann hier nur geahnt werden. Gleichgewichten wird dann ein intentionaler Akt unterstellt, nämlich das Warten auf Störung. Es mag sein, dass ein falsch verstandenes Bewußtseinsmerkmal, die Diskrimination, also das Erkennen von Unterschieden, Baecker zu solchen Behauptungen hingerissen hat. Es kann aber auch sein, dass dies wieder ein Ausweis für poetisches Geraune im Mantel physikalischer Terminologien ist.
Und dann kommen ein paar Behauptungen, die viel über seine Vorstellungen von Systemen belegen. Aber aktuell ist nicht nachgewiesen, dass Urkulturen, die keinen Kontakt mit der Zivilsation haben einfach so verschwinden, nur weil sie noch genauso leben wie der Mensch vor 10.000 Jahren. Aber vielleicht meint er mit Anschluß auch Telefonanschluß oder Anschluß an animalische „Tierkulturen“ wie der Affen oder Elefanten. Letztere haben einen regelrechten Totenkult und besondere Platz, wo sie Sterben und ihre Toten „besuchen“. Totenkult ist übrigens eines der Merkmale, das Völkerkundler als Beginn der menschlichen Kultur ansehen. Kultur ist Praxis, so etwas riecht nach Empirie.
Wieso erklären uns die Systemtheoretiker nicht mal Phänomene mit eigenen Voraussagen, die man nachher auch in der realen Welt überprüfen kann, wie es die Philosophen mit der Philosophie des Bewusstseins seit 30 Jahren immer wieder erfolgreich gemacht haben?
Was also meint Baecker nun mit der nächsten Gesellschaft? Schauen wir uns eine Rede von ihm zu diesem Thema an. Offenbar hat Baecker seinen Harold A. Innis genau gelesen:
Wir haben es mit nichts Geringerem zu tun als mit der Vermutung, dass die Einführung des Computers für die Gesellschaft ebenso dramatische Folgen hat wie zuvor nur die Einführung der Sprache, der Schrift und des Buchdrucks. Die Einführung der Sprache konstituiert die Stammesgesellschaft, die Einführung der Schrift die antike Hochkultur, die Einführung des Buchdrucks die moderne Gesellschaft und die Einführung des Computers die nächste Gesellschaft.
Die Sprache also ist es noch immer, die Ursache aller Kultur sein muss. Hier ist er ganz nah an Habermas. Wo liegt der locus classicus des Begriffs nächste Gesellschaft?
Peter F. Drucker hat die Gesellschaft, die auf die Einführung des Computers zu reagieren beginnt, „next society“ genannt, weil sie sich in allen ihren Formen der Verarbeitung von Sinn, in ihren Institutionen, ihren Theorien, ihren Ideologien und ihren Problemen, von der modernen Gesellschaft unterscheiden wird. Darüber hinaus jedoch steckt im Stichwort des Nächsten möglicherweise ein genauso wichtiger Kern der Wahrheit wie im Stichwort des Modernen. Als „modern“ war zu verstehen, was sich innerhalb einer unruhig gewordenen, dynamisch stabilisierten Gesellschaft als Modus seiner selbst, als modischer, das heißt vorübergehender Zustand in der Auseinandersetzung mit anderen Zuständen verstehen ließ. Möglicherweise steckt auch in der Referenz auf das „Nächste“ eine solche strukturelle Problemformel. Möglicherweise bekommen wir es mit einer Gesellschaft zu tun, die nicht mehr auf die Gleichgewichtsfigur des Modus, sondern auf die Orientierungsfigur des Nächsten geeicht ist. Die nächste Gesellschaft, wenn sie sich denn durchsetzt, wird in allen ihren Strukturen auf das Vermögen fokussiert sein, einen jeweils nächsten Schritt zu finden und von dort aus einen flüchtigen Blick zu wagen auf die Verhältnisse, die man dort vorfindet. Sie wird sich nicht mehr auf die soziale Ordnung von Status und Hierarchie und auch nicht mehr auf die Sachordnung von Zuständen und ihren Funktionen verlassen, sondern sie wird eine Temporalordnung sein, die durch die Ereignishaftigkeit aller Prozesse gekennzeichnet ist und die jedes einzelne Ereignis als einen nächsten Schritt in einem prinzipiell unsicheren Gelände definiert.
Der geneigte Leser mag hier einen verklausulierten Hinweis auf eine evolutionäre Erklärung der Entwicklung von Gesellschaft hineinlesen. Spannend, dass Baecker gerade die zeitlich enorm auseinander liegenden Entwicklungen der Moderne in geistesgeschlichtlicher, politischer, ökonomischer und ästhetischer Hinsicht zu einem Modus zusammenfassen kann. Es muss eine enorme Höhe sein, von der aus der argumentiert. Es ist die Höhe der zusammenfassenden Sicht auf Merkmale, die die Systemtheorie ermöglicht. Warum Baecker nun gerade die funktionale Ebene der Kausalität abzulösen meint durch eine diskontinuierliche Abfolge von diskriminierten Schritten kann man nur verstehen, wenn man die Abbildungsleistungen von Analog-Digital-Wandlern kennt. Sie tasten ein Ereignis wie einen Klang oder ein Bild in vielen Tausenden Schritten pro Sekunde ab und komprimieren die Daten durch das Weglassen oder Mitteln benachbarter ähnlicher Informationen oder das bloße Aufzeichnen von Zustandsänderungen. Auf diese Weise schafft Baecker offenbar eine digitale Betrachtungsweise, die ihn berechtigt, eine nächste Gesellschaft heruafzubeschwören, die auf eben diesem Prinzipen beruht. Das ist eine besondere Form des Zirkelschlusses. Nicht die Prämisse enthält bereits die Konklusion sondern die gewählte Perspektive.
Artikel per E-Mail verschicken
Schlagwörter: Gesellschaft, nächste, Systemtheorie
33 comments
Du magst Recht haben, dass diese Thesen nur Kondensat seines neuen Buches sind und daher nicht den Anspruch eines Theoriegebäudes erheben. Das erweitert aber keineswegs ihre Aussagekraft hinsichtlich des eigentlichen Untersuchungsgegenstandes, einer besonderen Perspektive oder gar hinsichtlich einer Neudeutung bestehender Texte oder vorliegenden Tatsachen. Thesen beziehen ihre Aussagekraft zumeist aus dem Text und dem Kontext, beides ist bei den 15 Thesen m.E. besonders opak. Das mag toll sein für die Eingeweihten, die seine anderen Schriften kennen. Explanans und Explanandum liegen offenbar außerhalb der Thesen, auch das Analysandum. Das wirkt…hm..exotisch. Wer die theoretischen Implikationen der Thesen nicht erschnüffeln kann, ist daher unberechtigt, ihre Aussagen zu bewerten? Die Kritik gilt dem Jargon.
Okay, offensichtlich wird Jörg Wittkewitz‘ „Kritik“ an Dirk Baeckers Thesen nach der Publikation bei Telepolis hier noch einmal zweitverwertet. Möglicherweise ist das eine gute Gelegenheit, um kurz aufzuschreiben, warum mich schon die erste Lektüre des Artikels unzufrieden zurückgelassen hat – und das nicht, weil er Baeckers fünfzehn Thesen kritisch begegnet, sondern weil er das auf eine merkwürdig uniformierte Weise und am eigentlichen Thema vorbei tut. Das ist insofern besonders ärgerlich, als das Thesenpapier eigentlich ausreichend Anlass zur Kontroverse böte.
Keine Frage: Sicher kann man Dirk Baeckers Duktus, seine naturwissenschaftliche Metaphorik oder auch die schmale empirische Basis seiner Thesen zum Ausgangspunkt von Kritik machen; allerdings läuft man dann Gefahr, entscheidende Aspekte der Arbeit nicht im Blick zu haben. Ohne mich zum Apologeten der 15 Thesen aufschwingen zu wollen (was ebenso vermessen wie unnötig wäre), stünde der Kritik eine sachliche Einbettung in den Kontext der jüngeren kulturtheoretischen Publikationen ihres Autors gut zu Gesicht – ja, Baecker stellt seine Aufsätze ebenso wie das inkriminierte Thesenpapier (das übrigens als streitbare Diskussionsgrundlage für ein Seminarwochenende an der Zeppelin Universität konzipiert worden ist) auf seiner Homepage zum Download bereit. Nach gelungener Lektüre könnte man dann möglicherweise die theoretischen Implikationen dieser Überlegungen kritisieren¹, ihre wissenschaftlichen Konsequenzen diskutieren² oder sich eine der Thesen herausgreifen und sie exemplarisch ausformulieren und auf ihre Plausibilität hin befragen³. So ließe sich möglicherweise in produktiver Weise mit Baeckers streitbaren Thesen umgehen und zugleich die Form der „These“ – als spielerische Setzung, als ein noch nicht bewiesenes Angebot für fragendes Denken – ernst nehmen. So oder so: eine solche Form der Auseinandersetzung bräuchte sich dann nicht an vermeintlich falsch gewählter Metaphorik abarbeiten und müsste sich nicht die Mühe machen, eine wissenschaftliche Theorie samt ihrer Vertreter („Jünger“, „Anhänger“) zu diffamieren. Aus der Tatsache, dass Jörg Wittkewitz anhand eines Luhmann-Zitats aus Soziale Systeme belegen möchte, dass jene Jünger der Theorie sozialer Systeme „noch immer nicht dem linguistic turn entwachsen“ seien (s.o.), Luhmann sich aber a.a.O. keine zwei Sätze nach dem zitierten Passus von eben dessen Sprachgebrauch distanziert („Im folgenden vermeiden wir diesen Sprachgebrauch“, S. 16), mag jeder Leser seine eigenen Schlüsse ziehen.
Für mich bleibt am Ende der (wiederholten) Lektüre unweigerlich der Eindruck, dass die Kritik nur zweitrangig den fünfzehn Thesen Dirk Baeckers gilt. Was eigentlich schade ist, weil sie ohne Zweifel genügend Anlass zu Diskussion und Widerspruch geben… dafür müsste man aber – und sei es aus Gründen der Dialektik! – die Grundlage der Auseinandersetzung, hier also: die Arbeit Baeckers, als diskussionswürdige Grundlage für die Auseinandersetzung mit der nächsten Gesellschaft begreifen. Dass dabei (zumindest bei Dirk Baecker) immer weniger „klassische“ Systemtheorie-Semantik Luhmann’scher Prägung zum Einsatz kommt, ist dann wohl die ironische Fußnote zu diesem Artikel.
—
¹ So z.B. geschehen bei den Bielefelder Sozialtheoristen: http://sozialtheoristen.de/2011/05/18/soziologie-zum-spas/
² Vgl. dazu Maren Lehmann, Klaus Kusanowsky und Andere hier: http://sebastian-ploenges.com/blog/2011/15thesen/comment-page-1/#comment-833
³ Ich habe das beispielsweise für These 7, zur Kunst der nächsten Gesellschaft, versucht. Nachzulesen hier: http://sebastian-ploenges.com/blog/2011/neue-kunst-fuer-neue-gesellschaft/
Okay. Dann müsste man aber wohl aus Gründen der Fairness zugeben, dass Stilkritik Aufgabe des Feuilletons ist – und es dann nur noch am Rande um wissenschaftliche Thesen geht, primär um Literatur, bestenfalls wissenschaftliche Prosa.
Aber auch das entledigt den Kritiker meines Erachtens nicht von der Pflicht, den Kontext zu erkunden – ob opak oder nicht (am Rande sei bemerkt, dass das Thesenpapier und die es flankierenden Aufsätze am selben Ort zu finden sind). Ohne esoterisch, exotisch oder gar arrogant klingen zu wollen: Die wissenschaftliche Kritik setzt, wie im ersten Kommentar erläutert, die Auseinandersetzung mit der Arbeit des kritisierten Verfassers voraus. Ohne eine solche Auseinandersetzung ist die Kritik vielleicht nicht unberechtigt, aber möglicherweise am Punkt vorbei. Aber das hast du nun ja ins rechte Licht gerückt: Stein des Anstoßes ist der Jargon.
Gilt die Kritik dem Jargon, dann liegt die Sache natürlich anders. Über Geschmack lässt sich nicht streiten. Möglicherweise ist Baeckers Lehrer Luhmann in diesem konkreten Fall aber ein geeigneter Zeuge:
„Wer überhaupt spricht oder schreibt, sollte sich verständlich ausdrücken. Das ist eine auf den ersten Blick einleuchtende Forderung. Denn wozu äußert er sich, wenn er nicht verstanden werden will? Soziologie ist nun aber nicht die Lehre vom ersten Blick, sondern die Lehre vom zweiten Blick. Und auf den zweiten Blick kommen Fragen und Bedenken hoch. Sollte man alles, was gesagt wird, gleichermaßen unter die Knute der Verständlichkeit zwingen? Soll Verständlichkeit bedeuten: Verständlichkeit für jedermann? Verständlichkeit ohne Mühe? Verständlichkeit ohne jede Vorbereitung, ohne jeden Zeitaufwand des Nachdenkens und Entschlüsselns? Gibt es ein lineares Kontinuum, das von Unverständlichkeit zu Verständlichkeit führt, und auf dem man mehr Verständlichkeit fordern kann? Oder gibt es auf diesem Wege vom Unverständlichen zum Verständlichen auch Abwege, etwa ins Mißverständliche? Gilt vielleicht, daß das Unverständliche nur aufgelöst werden kann durch Steigerung von Verständlichkeit und Mißverständlichkeit zugleich?“ (Soziologische Aufklärung Bd. 3, Opladen 1983, S. 170)
Seltsame Vorkommnisse mit alten Kommentaren gelöst. (Danke für den Hinweis an ck, Dank auch an Sebastian, der glücklicherweise seine Kommentare archiviert hat.) In der Tat weist das SPAM-Plugin seit einigen Tagen seltsames Verhalten auf, bisher wurde man erst nach mehr als einem Link in die ewigen Jagdgründe befördert, warum nun schon einer reicht, entzieht sich meiner Übersicht.
Das macht die ganze Chose doch schlimmer als ich dachte. Diese Verteidigung – vor allem das Zitat – bringt mich nun vollends zu dem Eindruck, dass wir es mit einer hermetischen Schule Luhmann zu tun haben wie sie weiland auch rund um das Goethesche Gewese von Herrn Steiner inauguriert wurde. Es ist tolldreist, wenn man ein Sprachspiel anbietet und nachher naseweis mitteilt, dass der Andere ja sowieso nie die Regeln verstehen kann. Wir nennen das: Kunst. Und unter ästhetischen Aspekten betrachtet, ist die Prosa von deinen Gewährsleuten Baecker und Luhmann sicher Geschmackssache. Dann wäre es nur recht und billig, „logos“ in Soziologie zu entfernen und es Soziosophie zu nennen.
„Es ist tolldreist, wenn man ein Sprachspiel anbietet und nachher naseweis mitteilt, dass der Andere ja sowieso nie die Regeln verstehen kann.“
Das Dilemma: entweder das Zitat so stehen lassen – oder weiter eigentlich Undiskutierbares diskutieren.
Wichtig ist mir vorallem folgende Richtigstellung: Eine prinzipielle Unmöglichkeit des Regelverständnisses habe ich nicht behauptet, und Luhmann meines Wissens auch nicht. Um hinreichende Grade von Eigenkomplexität aufzubauen, braucht Theorie ein eindeutiges Begriffsarsenal. Das kann man gut oder schlecht finden, ändert aber wenig an der Tatsache. Und gegen Komplexität lässt sich nicht protestieren, wie ein Luhmann-Bonmot besagt. Dass das systemtheoretische Begriffsarsenal bei der Lektüre anfangs recht frustrierend ist, kann ich noch nachvollziehen. Aber ist Frustration eine angemessene Basis für Kritik? Will nicht jede (Fach-) Sprache zu Beginn mehr oder weniger mühevoll eingeübt werden? Wirfst du auch Mathematikern ihre (für Nicht-Mathematiker häufig unverständliche) Formelsprache vor? Oder Wittgenstein, den du ja implizit zitierst, die Hermetik und interne Komplexität seiner Untersuchungen und Traktate? Und bemüht man nicht selbst fortlaufend zahlreiche fachinterne Sprachspiele, deren Verwendung man in der Regel gar nicht bemerkt – gerade weil sie einem in der Geläufigkeit ihrer Verwendung keinen Anstoß mehr bieten?
Sei’s drum. Ich befürchte, dass diese Diskussion nicht ergiebig wird. Weil solche Fragen intersubjektiv nicht zufriedenstellend beantwortet werden können – nicht für dich, nicht für mich, wohl erst recht nicht für deine übrigen potentiellen Leser. Problematisch ist, dass es am Ende wohl um eine Form der Haltung zum Text geht. Und die ist ebenso persönlich wie schlecht diskutierbar. Ich versuche es grundsätzlich mit der Regel zu halten, Autoren vor einer Kritik möglichst wohlwollend gelesen zu haben (ob du das im konkreten Fall getan hast, kann und will ich gar nicht beurteilen. Aber ich gehe auch hier – gemäß der geschilderten Devise – zunächst davon aus, dass dies der Fall ist). Zweifellos: Manchmal ist der nötige gute Wille partout nicht aufzubringen, dann lege ich das entsprechende Buch zur Seite. Zumindest vorläufig.
Wie dem auch sei: Deine Kunst-Assoziation kommt sicherlich nicht von ungefähr. Wenn es Kunst ist, ein Vokabular zu erfinden, das ausgetretene Pfade verlässt und die Beschreibung der Bedingungen des Entstehens dieser Pfade erlaubt, ist es den Aufwand jederzeit wert. Geht es darum nicht der Wissenschaft? Die Erschließung von Welt durch immer detailliertere Beschreibungen? Und sind diese nicht besonders von Nöten, wenn der „logos“ in Soziologie und Philosophie auf so etwas wie einen ontologischen Rationalitätsbegriff rekurriert, der noch nie in der Lage gewesen ist, gesellschaftliche Wirklichkeit angemessen zu beschreiben? Dann in der Tat: lieber Kunst! Oder „Soziosophie“, wenn du so möchtest – auch, wenn das für mich eher nach christlicher Nächstenliebe klingt…
Sebastian ist in seiner Kritik an Jörg zuzustimmen. Ohne das jetzt weiter auszuführen – weil das am Kern der Kritik der Kritik vorbeiführen würde – Jörg hat schlicht keine Ahnung von Systemtheorie. Und die muss man eben haben, um systemtheretisches Denken überhaupt kritisieren zu können. Wenn Journalisten sich in wissenschaftliche Diskurse wagen, wurde es historisch gesehen meistens peinlich. Systemtheorie ist nicht deswegen unverständlich, weil sie sich falsch ausdrücken will. Sie ist unverständlich, weil sie ihrer Perspektive treu bleiben möchte – und die ist sehr abgehoben.
Ich habe den Eindruck Herr oder Frau Anonymous, dass Sie der Systemtheorie mit dieser Einlassung keinen Gefallen tun. Ein argumentum ad hominem erfrischt sicher das Gemüt, aber einem Wissenschaftstheoretiker vorzuwerfen, er verstünde nichts von Erkenntnistheorie erfüllt in etwas denselben Zweck wie einem Arzt vorzuwerfen, er hätte keine Ahnung von Wunden, da er kein Mörder oder Schläger sei.
Sebastian,
mir würde Kohärenz reichen. Übrigens können Latour und Stengers bedeutend klarer Formulieren, obwohl ihre Thesen und Vorschläge nicht weniger komplex sind. Es scheint mir übrigens, dass das Wort „komplex“ aktuell eine ähnliche Funktion einnimmt, wie seinerzeit „Phlogiston“…
Jörg, wenn dein Hobby Erkenntnistheorie ist, dann soll dies so sein. Dann solltest du auch wissen, dass ein Analogieargument niemans ein Argument ist, da sich immer eine Gegenanalogie bilden lässt: Oder wie gut meinst du wohl schweißt ein Arzt, der auf einmal Stahlhochhäuser baut?
Ums auf den Punkt zu bringen: Um miteinander kommunizieren zu können, muss man eine Sprache sprechen. Um über Systemtheorie sprechen zu können, muss man die Begriffe der Systemtheorie runterbeten können. Die Erkenntnisdifferenz liegt nämlich nicht im Nichtverstehen, sondern im Nichtverstehenkönnen. Das kann man dir noch nichtmal vorworfen, aber wissen kannst du das.
@anonymous
„Um miteinander kommunizieren zu können, muss man eine Sprache sprechen. Um über Systemtheorie sprechen zu können, muss man die Begriffe der Systemtheorie runterbeten können.“
Es freut mich, dass Du meiner Meinung bist. Exakt den Eindruck hatte ich auch. Deshalb mein Argument der „hermetischen Schule“. Wir haben präzise dieselben Argument mit einer diametralen entgegengesetzten Konklusion.
;-)
-> Es freut mich, dass Du meiner Meinung bist. Exakt den Eindruck hatte ich auch. Deshalb mein Argument der “hermetischen Schule”. Wir haben präzise dieselben Argument mit einer diametralen entgegengesetzten Konklusion.
;-)
___
Sehr gut Jörg, dann kann ich ja zum Finishing Move ausholen. Rekapitulieren wir also: Mit deutscher Sprache liest du einen chinesischen Text. Dabei verstehst du einzelne Wörter, die bei dir einen Assoziationskirmes auslösen. Aber insgesamt hast du ihn nicht verstanden, weil du kein chinesisch kannst. Stattdessen dich nun tiefer mit der Materie zu beschäftigen oder es würdevoll ganz sein zu lassen, schreibst du nun einen Artikel darüber, der uns zwischen den Zeilen verrät, dass du dich öffentlich darüber beklagst, dass du keine Ahnung hast – und tust dabei auch noch so, als sei das die Schuld von Dirk Beacker.
Wie bescheuert das ist, muss man nicht weiter ausführen, oder, Herr Wissenschaftstheoretiker?
Aber du kannst gerne die Kritik widerlegen. Was qualifiziert dich über die Qualifikation anderer Leute urteilen zu können?
@anonymous
Die Sondernutzung alltagssprachlicher oder naturwissenschaftlicher Begriffe von einigen Systemtheoretikern analog zu setzen zum Chinesischen ist ein innovativer Umgang mit Analogieschlüssen. Und nebenbei wird das Argument eingeführt, dass ich die Qualifikation von Baecker qualifiziere. Eine durchaus engagierte Rezeptionskomposition mit Emergenzphänomen.
Jörg Wittkewitz hat soeben eine Beileidsbekundung von Christoph Kappes erhalten. Die zum obigen Text aufgelaufenen Kommentare seien „hochnäsig“. Folgendes richtet sich an diejenigen, die über den Link von Herrn Kappes hier gelandet sind.
Dieser Vorwurf ist frech und falsch. Der obige Text handelt von einer Suche, in der „System-Wissenschaft“ den Physikern gleich „Raum, Zeit, Masse und Energie“ in einer Gesellschaftstheorie aufzuspüren.
Diesem Unfug bereits auf der Ebene der Prämissen zu widersprechen ist oberste soziologische Bürgerpflicht. Wenn das Internet nicht für solch eine Diskussion da ist, wofür dann?
Ich erkläre hiermit Sebastian mein Beileid für einen weiteren, leider nicht ertragreichen, Versuch, Dinge die klarzustellen sind klarzustellen.
Ich berichtige: „nicht ganz so ertragreich, wie gehofft“. Schließlich habe ich gelernt.
Und ich ergänze zusätzlich. Jörg Wittkewitz‘ Arbeiten schätze ich, soweit ich sie kenne (zuletzt FAZ) sehr.
Ich schätze, man könnte diese 15 Schwurbelthesen remixen, ohne dass es wem auffallen würde.
@Stefan. Verstehe ich das richtig: Sie schreiben hier, was Wittkewitz tut, sei „Unfug“ – wenn ich Sie aber dann als hochnaesig bezeichne, finden Sie das „frech“?
Und ich Beitrag ist „Pflicht“?
Ja, sehen sie richtig. (Von meiner Seite ist weder Logik noch Höflichkeit ein striktes Erfordernis. Wobei „Unfug“ nicht zwingend als rein subjektives Werturteil auszulegen ist. „Hochnäsigkeit“ schon.)
Wie war das neulich mit dem „besserwisserischen“ Schreibgebahren, Stefan? Du beklagst, Dich, dass man hier nicht vernünftig diskutieren könne, benimmst Dich aber wie die Axt im Walde. Passt nicht.
„Es ging, wie sich herausstellte, von Anfang an gar nicht um die Thesen und ihre Implikationen“
100 Punkte!
Wir kommentieren hier lediglich eine unglückliche Selbstpräsentation von Jörg.
Das ist im Ganzen eine sehr gelungene Diskussion; dafür möchte ich mich gern bei allen bedanken. Ich erinnere mich an irgendeine Stelle in einem Habermas-Aufsatz, die ich vergessen habe, ich welcher es sinngemäß heisst, dass man, wollte man die Luhmannsche Theoriedisposition akzeptieren, keine rationalen Möglichkeiten mehr hat, die daraus resultierenden Diskussionen zu reflektieren. Womöglich wollte Habermas damit andeuten, dass Diskussionen über diese Art der Systemtheorie schießlich in Trolligkeit zerfallen müssten; womit er vielleicht recht haben könnte. Allerdings scheint mir der umgekehrte Fall eher aussichtsreich: dass erst wenn Erwartungen auf Rationaltät der Diskussion in Kontingenz zerfallen, man sich auf Reflexivität einrichten kann und die Kommunikation unter dieser Bedingung wieder Kontingenz einschränkbar macht. Es dürfte also erst dann wieder so etwas wie Klarheit aufkommen können, wenn man sich über mangelnde Klarheit gar nicht mehr beschweren kann.
Jedenfalls lässt die Internetkommunikation nicht mehr das zu, was ehedem die Anschlussmöglichkeiten einschränken konnte, dass man sich nämlich in separierbare Räume aufteilte, für die Zugangsregeln ermittelt und vermittelt werden konnten. Man konnte sich einfach aus dem Wege gehen: der Feuilletonist bliebe dem wissenschaftlichen Gespräch fern, der Wissenschaftler dem Feuilleton. Aus diesem Grunde reagierten beide Seiten hoch empfindlich auf Grenzüberschreitungen: wenn Wissenschaftler anfingen, fürs Feuilleton zu schreiben, schrie man Verrat an der Wissenschaft; schrieben Feuilltonisten wissenschaftlich, schrie man entsetzt ob des Verlusts von Auflage. Daraus resultierende Grenzkonflikte sind immer noch nicht abgearbeitet, aber dieser Abarbeitungsprozess lässt sich in dieser Diskussion en miniature verfolgen.
Solche Diskussionen sind ein Fortschritt, weil sie die Unhaltbarkeit von Erwartungen an Rationalität verstärken. Gewiss wird man wieder lernen, sich aus dem Wege zu gehen, aber die Flecken dieser Erfahrung sind nicht abwaschbar.
„Solche Diskussionen sind ein Fortschritt, weil sie die Unhaltbarkeit von Erwartungen an Rationalität verstärken. Gewiss wird man wieder lernen, sich aus dem Wege zu gehen, aber die Flecken dieser Erfahrung sind nicht abwaschbar.“
Bestechend klarer Punkt, danke für deine Analyse.
Wenn man moralinfizierte Störrufe hier wie dort beiseite lässt, ist die Form der Diskussion über die „Diskussion“ in der hier archivierten Gesamtschau ein wirklich lehrreiches Stück empirischer Sozialforschung: Die Kunst der kommunikativen Gratwanderung bei solchen „interdisziplinären“ Begegnungen besteht dann darin, die Ergebnisse der Beobachtung ohne normativen Zeigefinger mitzuteilen – und ebenso zu verstehen (wer um die hohe Integrationskraft von Konflikten weiss, ahnt, wie schwierig diese Gratwanderung bei jedem einzelnen Schritt ist. Vgl. dazu und bei Bedarf folgendes Kurzzitat hier: http://j.mp/igggBb zu Konfliktkommunikation).
Wer nun die bisher mitgeteilten Kommentare entlang einer Unterscheidung quantifiziert, die zwischen inhaltlichem Anschluss an das Baecker-Paper (Sachdimension des Sinns, N =0) von wortgewaltiger Wissenschaftsprosa und der Thematisierung der Kommunikationsform selbst (Sozialdimension, N = 9) diskriminiert, kann sich über Materialmangel zur Beforschung von archetypischer Internetkommunikation jedenfalls nicht beschweren. Und das ist doch auch schon was…
Post Scriptum. Mit einem zweiten Verweis auf das oben verlinkte Zitat verweigere ich mich (abgesehen von diesem Satz hier) der Thematisierung dieses Beileid-Quatsches. Um so etwas ging es tatsächlich nicht – und ich vermute, Jörg wird mir da beipflichten.
kusanowsky, danke für eine weitere meta-ebene :-)
stimme dir zu, folgendes möchte ich ergänzen:
ich möchte auch betonen, dass die beiden zugänge zur welt (mal ganz oberflächlich jetzt: journalismus [oder hier eher: selbstdarstellung] und wissenschaft) auch unterschiedliche qualitäten (sprich inhalte, ohne wertung) produzieren, die in ihrer eigenen perspektive auch nicht wechselseitig auswechselbar sind, unterschiedlichen zwängen unterliegen, usw.
es wäre also nicht nur eine relativistische dekonstruktion sinnvoll (am ende des tunnels immer die kontingenz entdecken), sondern auch eine produktivistische: welche sozialität wird produziert, indem wir die welt wiederum unterschiedlich sehen. denn gerade die letzte perspektive ist ja im endeffekt das, was unsere alltagswelt strukturiert und potentialitäten ermöglicht.
das internet führt nun dazu, dass diese perspektiven sich öfter berühren – im gegensatz zu früher. aber das heißt nicht, dass sie sich nicht gegenseitig kritisieren dürfen bzgl ihrer inhalte. aus der beobachterperspektive vergisst man gerne, dass die bedingungen der eigenen beobachtungen erst durch die produktive struktur der gesellschaft gemacht wird (also konkreter einfluss genommen wird aufs wissenschaftliche beobachten selbst, durch zb fianzierung, differenzierung, arbeitsteilung, usw).
indem wir hier also auf einen journalisten rhetorisch einprügeln, versuchen wir natürlich die soziologische perspetive zu stärken (wenn auch nur im sehr, sehr kleinen) bzw. überhaupt zu erhalten – und das kann man auch legitimieren, ohne ausschließlich selbstreferentiell argumentieren zu müssen. soviel zu einem kleinen gedankenexperiement marxistisch angehauchter systemtheorie :-)
Ich bin erstaunt, wie sehr man unterschiedlicher Auffassung sein kann. Ich für meinen Teil schätze die Luhmann´schen Theorien, habe aber trotzdem das Bedürfnis, eine rationale Diskussion einzufordern.
Die ersten Kommentare hier genügten meiner Meinung nach diesem Anspruch nicht. Im Gegenteil: Durch den ständigen Rekurs auf das Wittkewitzsche Unverständnis der Systemtheorie, gepaart mit apodiktischen Behauptungen und kleinen Spitzen (wie der, W.s Hobby sei Erkenntnistheorie), wurde eben nicht über den Text, sondern über Wittkewitz diskutiert.
@Sebastian: Post Scriptum. Mit einem Verweis auf die entsprechenden Kommentare verweigere ich mich (abgesehen von diesem Satz hier) der Thematisierung dieses Kommentar-Quatsches. Um so etwas ging es tatsächlich nicht – und ich vermute, Jörg wird mir da beipflichten.
-> Sehen Sie die Destruktivität dieser Argumentationsfigur?
„habe aber trotzdem das Bedürfnis, eine rationale Diskussion einzufordern.“ – auch ich würde gern mein Beileid bekunden, weiß aber nicht an wen ich es richten soll. Wer könnte solche Forderungen erfüllen?
„indem wir hier also auf einen journalisten rhetorisch einprügeln, versuchen wir natürlich die soziologische perspetive zu stärken“ – na? Hat denn da der Soziologe auch mitgelauscht und aufgepasst? Sich selbst zu stärken durch Schwächung anderer? Vielmehr läuft es darauf hinaus sich gegenseitig zu schwächen, wenn man meint, jemand könne sich durchsetzen, sich stark machen. Nicht?
a) Jörg:
Mich irritiert dann eigentlich nur noch, warum man die ersten Kommentare nicht mehr lesen kann? Werden die von Eurem Theme irgendwie ausgeblendet? Das ist natürlich sehr, sehr unglücklich.
b) Offtopic:
Lieber „C.K.“: Ich sehe die paradoxale Struktur, ja. Destruktivität sehe ich (hier) nicht, andernorts aber zu Genüge. Zur spezifischen Form Ihres Umgangs mit der Diskussion enthalte ich mich einer Beurteilung. Und habe im Übrigen auch kein gesteigertes Interesse daran, diese hier mit Ihnen zu diskutieren. Lesen Sie, wenn Sie mögen, doch einfach noch mal das oben referenzierte Luhmann-Kapitel, wenn Sie seine „Theorien“ ebenso schätzen wie ich, sollte Ihnen das nicht allzu weh tun. Insbesondere die Passagen zu den Reproduktionschancen von Konfliktsystemen dürften Sie interessieren. Ihr Versuch, die „Diskussion“ mit Hilfe öffentlicher Beileidsbekundungen wegen der vielen „hochnäsigen Kommentare“ (https://twitter.com/#!/ChristophKappes/status/79945908288102401) am Laufen zu halten, zeugt jedoch von entsprechender Kenntnis. Ansonsten gilt ja: Es gibt keine bessere oder schlechtere Autopoiesis, gell?
Es wäre nicht nur peinlich, sondern um die Kommentare auch sehr schade. Sie tauchen hoffentlich wieder auf.
an C.K.:
die kritik hier ist keine an jörgs person, sondern an seinem wissen und damit qualifikation zu urteilen. zugegeben, beides nicht real trennbar, aber idealtypisch durchführbar. persönlich wurde es dann ein wenig, als er auf autoritäten statt auf argumente setzte und versuchte sich der kritik zu entziehen: (phlogiston, erkenntnistheorie, emergenz, usw.) da wurde immer klarer: wer sowas macht, der will gar nicht über die sache reden bzw. kann es nicht.
kusanowsky: „Vielmehr läuft es darauf hinaus sich gegenseitig zu schwächen, wenn man meint, jemand könne sich durchsetzen, sich stark machen. Nicht?“
das versteh ich nicht ganz: eine perspektive zu stärken heißt nicht, die andere zu schwächen. oder gibts zwischen normativen ordnungen messbare gleichgewichtsverteilungen? ich denke es geht dabei eher darum zu zeigen, dass beide unterschiedlich sehen, und diese unterschiede im interesse aufrecht zu erhalten – gleichzeitig sind sie natürlich in differenzierten perpsektive immer irgendwo auch miteinander verbunden.
aber erläuter mal, was du genau meinst.
„aber erläuter mal, was du genau meinst“ – das würde ich gern tun, nur fürchte ich, dass es niemanden gibt, der entsprechende Argumente in aller Komplexität gründlich studieren wollte. Seit 1 1/2 argumentiere dies in inzwischen 300 Blogartikeln und ich kann nicht behaupten, dass die Sehnsucht nach weiteren Erläuterungen übermäßig (ich betone: übermäßig) groß ist. Deshalb sei es mir erlaubt, es mit drei Sätzen zu sagen:
Der Versuch, sich mit eigenen Argumenten gegen andere Argumente durchzusetzen unter der Voraussetzung, dass man es mit einer geteilten Form der Reproduktion von Erfahrung (hier: Dokumentform als spezifische Erfahrungsform) zu tun hat, führt dazu, eben diese Form zu zerrütten und beide Seiten zu schwächen, wodurch die Form in Kontingenz zerfällt, was man schon an dieser Anweisung bemerken kann: Sei vernünftig!; kann doch diese Anweisung nicht selbst vernünftig sein, andernfalls müsste man eine Rationalität der Rationaliät erklären können, was schlechterdings nicht geht. Ein Ausweg findet sich erst auf einer nächsten Ordnungsebene (möglicherweise als „nächste Gesellschaft“ apostrophiert), die die Dokumentform als Medium benutzt um in der Folge eine neue Form der Reproduktion von Erfahrung zu generieren. Aber das geschieht nur durch soziale Lernprozesse, die Rationalität als prinzipiell kontingent voraussetzen und welche auf dieser Basis das Problem der Kommunikation erfahrbar machen.
@Stefan:
Kein Problem. Hatte glücklicherweise Sicherungskopien der Kommentare zur Hand (das habe ich mir, vielleicht zur vorläufigen Rettung der Dokumentform, vor einiger Zeit so angewöhnt). Bei fremden Servern weiss man ja nie so genau…
@Kusanowsky:
Interessante Kondensierung Deines Programms. Wenn mich in der näheren Zukunft noch mal jemand fragt, was Du eigentlich konkret erforscht (sowas kommt vor), dann werde ich hierher verweisen (vorausgesetzt, Dein Kommentar bleibt auffindbar).
Womit man natürlich sehr zentrale Aspekte der unterstellten Ausgangsfrage berührt… Adressierbarkeit und Identität. An letzterer wurde sich während der vergangenen gut 100 Jahre nachhaltig abgearbeitet (die vorläufigen theoretischen Landmarken sind in den Arbeiten Spencer Browns und/oder Jacques Derridas zu finden, bei Derrida bin ich mir noch nicht sicher); das Problem der Nicht-Adressierbarkeit ist auch nicht neu, stellt sich unter Netzwerkbedingungen (von mir aus auch: unter Bedingungen der Zerrüttung der Dokumentform) aber besonders dringlich.
Ich erlaube mir, an dieser Stelle noch mal auf die dritte von Dirk Baeckers Thesen zu verweisen: „Die Strukturform der nächsten Gesellschaft ist […] das Netzwerk. An die Stelle sachlicher Rationalitäten treten heterogene Spannungen, an die Stelle der Vernunft das Kalkül, an die Stelle der Wiederholung die Varianz“ – die heterogenen Spannungen sind hier wohl bestens dokumentiert, die Stelle der Varianz bleibt noch seltsam leer: setzt sie doch Vergleichbarkeit (und damit auch: Adressierbarkeit) voraus. Wie wird damit umzugehen sein?
@all and to whom it may concern
Übrigens hat Dirk Baecker die Überschrift seiner Thesen zwischenzeitlich um den Verweis auf ihren Kontext ergänzt: seine 2007 bei Suhrkamp erschienenen „Schriften zur nächsten Gesellschaft“. Die Lektüre dieses Bandes sei seinen Kritikern vor ihrer Kritik wärmstens empfohlen…
@kusanowsky Wie gross ist denn die Sehnsucht nach weiteren Erläuterungen heute?