Auf der re:publica in Berlin geht es immer um das Ganze: den Menschen, am besten in Gruppen, in großen Gruppen – die größte Gruppe ist die Gesellschaft, zumindest dort wo es keine nationalen Grenzen gibt, im Internet.
Was die Gesellschaft ist, das ist keinem so ganz klar. Es sind zumindest deutlich mehr als nur mehrere Menschen…
Vom Ich zum Wir?
Heutzutage ist es offenbar wichtig, dass man sich in Gesellschaftstechnik auskennt. Meint man es ernst, macht man auf Gruppenhydraulik oder Systemtheorie. Ewiggestrige – vornehmlich aus Frankfurt – finden „det janze Jetue mit die andern“ vor allem entfremdend. Eines Tages hatte das nabelschausüchtige Ich, das sich schon im 19 Jahrhundert aus dem Kokon der Selbstsucht durch die Liebe befreien wollte, keinen anderen Ausweg mehr gefunden als in den Anderen bzw. die Andere: Bei Rilke waren es noch die Liebenden, die seitenweise zum Zentrum der Welt wurden. Dann wurde dem geneigten Modernisten klar, dass er sich die Welt nur aneignen kann, wenn dort vieles vorstellbar ist. Heute nennt man as gerne das Ganze. Also am besten gleich alles, was nicht die Physik mit ihren Gesetzen durchlöchert. Dann kam das Internet und nun haben wir den Salat. Denn der Mensch hat – anders als andere Tiere – gleich den gesamten Globus bevölkert. Dann kam der Markt. Beides zusammen markiert der Begriff Globalisierung. Das aber ist vielen zu groß. Also geht man einen Schritt zurück in die Kategorie der Funktionen.
Schrift: Die Wir-Funktion
Die besondere menschliche Adaptationsfähigkeit in allen Regionen der Welt zu leben, könnte eigentlich reichen als unique selling point (USP) der humanoiden Primaten. Aber nein. Seit einigen Jahrzehnten muss nun die Sprache als das Kulturwerkzeug schlechthin herhalten. Weder die Axt, noch Rad oder gar die Dampfmaschine haben einen derart hohen Stellenwert behaupten können über die Jahrhunderte. Die Sprache selbst gehört aber seit den Tagen des Pergaments – also der Speicherung als Schrift – den langweiligen Geisteswissenschaftler, nun hat man sie einfach in Wissenspakte gebündelt und stapelt sie auf Servern. So ist die Sprache eingefroren worden und in großen Blöcken ins Tiefkühlfach namens Internet für spätere Untersuchung zwischengelagert. Dort kann man sie in Textform herrlich als Ware umetikettieren.
Und wie verbindet man Text und die Menschen sinnvoll?
Der Geniestreich, aus verstreuten Bibliotheken eine weltweite Zentralbibliothek mit Lichtgeschwindigkeit zu machen, veranlasst vermeintlich rührig auftretende Mathematiker (Gunter Dueck) auf der Web-Konferenz re:publica dazu, diesen Speicherort als (System- oder gar Funktions)-Grundlage für etwas zu betrachten, das nach all den Jahren der bahnbrechenden Erfindungen noch immer nicht erschöpfend erklärt werden kann: die Gesellschaft. Aus Sicht seines Arbeitgebers IBM wäre das ein tolle Sache. Was aber ist dieses Gesellschaftsdings? Ein Ganzes? Eine Schnittmenge? Ein allumfassendes wie Nation? Oder einfach eine Senke in die die Texte aus den Quellen absinken, wenn die Herren der Server und Leitungen dies erlauben (siehe Gas- und Stromnetze)?
Diese Gesellschaft sollen wohl einfach wir alle sein. Plus ein paar Migranten, die nett sind und eine brauchbare Ausbildung haben, ein paar Irre, die in Krankenhäusern wohnen, Millionen von grillenden und mampfenden Arbeitern, die gerne nichts mit dem Web zu tun haben, weil das null entspannend ist nach der Schicht und eben noch all diejenigen, die außer mal eine Mail zu schreiben oder ein Buch zu bestellen keinen Mehrwert im Web sehen. Ach so, dann habe ich noch die vergessen, die ihr Leben in St. Moritz, in Johannesburg oder auf den Malediven genießen, weil andere für sie arbeiten oder gearbeitet haben. Dann wären da noch all diejenigen, die über das Internet lachen, weil da nur Deppen rummachen, die keine Frau abkriegen und diejenigen, die Kinder bekochen, baden und anziehen oder umher fahren.
Die meisten von denen, die man auch zur Gesellschaft rechnen kann, die nutzen das Web genauso oft wie ein normaler Mensch eben das Radio oder ein Telefon benutzt. Nebenbei mal. Oder um was jemandem mitzuteilen. Die lernen nicht im Web. Die beteiligen sich auch nicht im Web am Staat. Die müssen nämlich einfach mal ihre Leben auf die Reihe bekommen, was zwischen Kinder abholen, arbeiten, kochen, Männer oder Frauen aufreißen und nach Hause fahren nicht eben viel zeit übrig lässt. Leider hilft ihnen das Internet kaum bei 95% der täglichen Handlungen. Warum man dann das Ganze als Betriebssystem ausbauen soll, ist mir schleierhaft. Der CTO von IBM Gunter Dueck hält es für sinnvoll angesichts der postmodernen Gesellschaft.
Er teilt einfach die Menschen in zwei Arbeitskategorien ein. Weil nämlich die Soziologen sich beim Begriff Gesellschaft nicht wirklich einigen konnten, kann man ja mal beim Begriff arbeitender Menschen ein paar Kategorien einziehen. Also gibt es welche die sich verwirklichen, so ganz im Stil des 18. Jahrhunderts mit romantischer Verinnerlichung und dem Veräußerlichen dieser Empfindungen als Individuation. Dann gibt es da noch die moderne Variante des Menschen als Cyborg, der als verlängerte Maschine einfach die Dampfmaschinen bedienen muss und nur numerisch gilt als Einheit im Effizienzmodell der Tayloristen des 19. Jahrhunderts. Die politische Kaste sei angesichts dieser beiden Modelle und des fehlenden Betriebssystems ganz lächerlich geworden, weil sie ja nur in Marktbedingungen den Menschen sehen kann, nämlich als Besitzenden von Arbeit und Nachfragenden von Arbeit. Außerdem haben diese Politiker eh keine Ahnung von der digitalen Revolution.
Aber Rettung naht. Denn mit dem Verein der Digitalen Gesellschaftkann nun erstmals quasi eine postmoderne Initiative Neue Soziale Medienexperten (INSM) als Ansprechpartner der Politiker dienen. Ob sie allerdings wie die Investmentbanker die Gesetze, die sie kontrollieren sollten, auch selbst schreiben dürfen, darf bezweifelt werden. Aber sie treten schon mal bizarr an:
Das Problem an der Vereinsmeierei in Zeiten des Web ist das Problem des Dezentralen. Denn Kern des Internet ist ja, dass es keiner Sterntopologie folgt sondern idealerweise alles mit allem verbunden ist. Nun stöhnt ) aber die Netzgemeinde, dass sie mit diesem Verein gar nicht verbunden ist. Wie so oft im Leben kommt es anders als man denkt, wenn man den Herrn Prokrustes anruft, auf dass er alle gemein mache und zu einem Maß zurechtschnitze. Ob nun ein Verein gar das richtige Mittel ist? Denn Hierarchien wachsen entweder von allein oder werden per ordre mufti erlassen. Im Internet Mufti zu spielen, kann ganz lustig sein. Aber das eine Problem ist, dass zumeist semiprofessionelle Schauspieler diesen Mufti spielen und ihnen nach erreichter Profilgröße nicht selten die Lust abgeht. Das andere Problem ist, dass man im Netz gern Augenhöhe propagiert. Wenn es dann aber um konkrete Ausgestaltung von Ideen und Vorhaben geht, die crowd sich gerne wegduckt und auf den Mufti verweist. Das kann den Mufti sehr schnell ermüden, er lahmt, strauchelt und fällt der Länge nach ins Nest des Marktes, wo er durch allerlei goldene Krücken wieder in die Vertikale gebracht wird.
Das aber ist sicher nicht im Sinn der Gesellschaft, weder der digitalen noch der analogen. Nebenbei bemerkt. Ich glaube, dass es keine diskreten Werte in der Gesellschaftstechnik gibt. Sodass eine digitale Gesellschaft in etwa denselben inhaltlichen Rahmen beschreibt wie eine physiologische Fuge oder eine hydraulische Zärtlichkeit. Kurz gesagt: Weder IBM noch anerkannte Berliner Netzexperten werden mithilfe des Netzes eine Gesellschaft modernisieren, die mit unbändiger Beharrlichkeit dem Gott des Kosten/Nutzen-Verhältnisses huldigt. Offenbar brauchen beide eine kleine Lektion Evolution oder spirituelle Nachhilfe…
Fazit:
Es ist weder besonders schlau, die Menschen anhand ihres Arbeitstils zu schubladisieren noch ist es hilfreich, einen Verein für Gesellschaft zu gründen. Denn zum einen ist der Mensch des 3. Jahrtausends exakt in diesem Moment dabei sich mittels des Internet und der Globalisierung selbst zu begegnen hinter all den Traditionen und fremden Kulturen und zum anderen ist in diesem Internet im besten Fall eine Plattform greifbar, die die sklerotischen Strukturen eines Vereines überflüssig macht. Einzig die archäologischen Artefakte des 19. Jahrhunderts, die wir als Parteien oder Verbände kennen, wären ein Grund, ähnliche Hierarchien aufzubauen. Aber ähnlich wie der Ruf nach einem (!) Betriebssystem für eine extrem heterogene Gesellschaft (wie technokratisch die Technoliberalen zuweilen sind, ist zuweilen ermüdend) ist auch das Aufbauen einer archaischen Gestalt wie einem Verein nichts anderes als die Hilflosigkeit der alten Welt gegenüber einer tabula rasa. Die Chancen, die im Web liegen sind manigfaltig. Es wäre schön, wenn wir endlich verstehen würden, dass evolutionäre Strategien, die viele Wege gleichberechtigt nebeneinander erlauben, der einzige Weg sind, Heterarchien, Mehrdeutigkeiten, vermeintlich Nutzloses und für den Betrieb bisher Unbrauchbares so lange existieren zu lassen, bis es Anderem Platz macht, dass alte Lösungen, Modelle und Ideen zu Übergreifendem zusammenzufasst.
Einsteins Theorien haben nicht einfach alte Fakten neu bewertet. Sie haben ganz neue Perspektiven auf Bestehendes ermöglicht. Insofern geht es nicht um einen Paradigmenwechsel, der durch neue Betriebssysteme und Vereine eingeleitet wird: Es geht darum Syntagmata zuzulassen. Denn erst die mathematischen Hilfestellungen von Einsteins Frau haben seine Theorien in breiten Kreisen verständlich und überprüfbar gemacht. Es kann also sein, dass uns das Internet, bei behutsamem Einsatz und geduldiger Betrachtung der anderen Menschen weltweit neue Perspektiven auf Macht und Nationen verleiht. Das kann unser einengendes Modell des Systems oder der Demokratie vollständig in Luft auflösen und eine übergeordnete Einsicht verleihen – auf den Menschen und sein Zusammenleben. Doch der Anfang dazu ist die Öffnung und nicht die Zähmung und Strukturierung der neuen Chancen.
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Schlagwörter: 2011, republica
4 comments
„Schubladisieren“ gefällt mir. :)
Du hast Lust am Wort, das gefällt mir. Leider haben die schlauen Füchse in dieser Zivilisation mit der Tätigkeit des „Schubladisierens“ ihre geldwerten Vorteile verdient und „die Gesellschaft“ honoriert diese banalen Tätigkeiten auch noch mit akademischen Würden – als gäbe es keine eklatanten Differenzen zwischen Wissen, Verstehen und Einsicht.