Wenn man den digital-transformatorischen Vordenkern mit ihren 4.0-Gesängen folgt, gewinnt man den Eindruck, irgendwann ins Land der Netzbeglückung zu gelangen und alles ist gut. Folge dem Pfad der Vernetzung und Deine Unternehmung ist gerettet. Schlusspunkt, Erkenntnis, Umsetzung und schon stellt sich der Erfolg ein. Du startest und gelangst an ein Ziel. Das Denken dieser Zeitgenossen ist statisch, ihre Sprache leer und langatmig. Dabei benötigen wir doch Erzählungen, die uns aus diesem mechanistischen Gefängnis der Erfolgsformel-Laberei befreien.
Auf der Suche nach Bruchstellen
In der digitalen Sphäre geht es um Vorläufigkeit und Nichtlinearität. Wir zerlegen, bearbeiten und verschieben Projekte und Formate, um an den Bruchstellen, den Knicken, den Faltungen und Lockerungen nach neuen Anschlussmöglichkeiten zu suchen, an denen wir dann weiter experimentieren sowie neue Ideen einhaken und weiter entwickeln können. So hat es Stephan Porombka, Professor für Texttheorie und Textgestaltung, in seinem Futurepublish-Vortrag in Berlin zum Ausdruck gebracht.
Man arbeitet nicht an letzten Lösungen oder Verheißungen für die Ewigkeit, sondern beschäftigt sich mit Zwischenlösungen.
Achtung, digital-transformatorische Scharlatane
Die von uns in die Wege geleiteten Veränderungen erreichen kein Plateau, auf dem dann wieder eine Zeit lang Ruhe einkehrt. Das vermitteln Scharlatane: die digitale Transformation wurde nach Maßgabe des Beraters realisiert, jetzt können wir wieder zur Tagesordnung übergehen. „Allem ist eingeschrieben, dass nichts so bleibt, wie es jetzt schon angekündigt wird, sondern eben nur eine Zwischenstufe auf dem Weg zum Nächsten ist“, sagt Porombka.
An die Stelle von Gewissheiten rückt das Experiment. Man schaltet um von einer recht großen Formen- und Formatsicherheit, die auf Marktsicherheit berechnet ist, auf die Unsicherheit des Experiments, ohne zu wissen, ob es dafür überhaupt einen funktionierenden Markt gibt.
Nicht-Experimentieren ist keine Option
Das gilt auch für die Wissenschaften, wie es Uwe Schneidewind, Präsident des Wuppertal-Instituts, im Utopie-Podcast #KönigvonDeutschland erläutert. Die modernen und hoch komplexen Gesellschaften können nur noch als experimentierende Gesellschaften existieren. Der Versuch der Wissenschaften, in sich geschlossene analytische Modelle auf den Weg zu bringen, ist zum Scheitern verurteilt. Wir brauchen die Organisation von verteilten Experimenten. „Nicht-Experimentieren ist keine Option. Erstarrungshaltungen sind das Fatalste, was passieren kann“schn, so Schneidewind.
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Das Bedürfnis nach mathematischer Genauigkeit zur Steuerung und Kontrolle von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft führt in die Irre. Wir bekommen die Unberechenbarkeit doch jeden Tag zu spüren. Die Kinder fressen selbst die digitalen Revolutionäre von gestern. Heute werden Online-Redaktionen mächtiger und sammeln symbolisches Kapital im Verhältnis zu den Print-Redaktionen, die immer stärker unter Rechtfertigungszwang stehen.
Auch Online-Redakteure sehen irgendwann alt aus
Doch selbst in den Online-Redaktionen sieht Porombka wieder eine Ausdifferenzierung zu neuen Akteuren, die sich dem Mobile Reporting verschrieben haben. Die Revolutionäre von gestern warnen mittlerweile vor den Folgen eines einseitig auf die sozialen Medien ausgerichteten Journalismus. Alles sei zu schnell, zu oberflächlich, zu sehr auf Klicks und Likes bedacht. Die mobile Fraktion, die etwa beim Livestreaming Akzente setzt, spürt den Druck von neuen Akteuren, die sich dem 360-Grad-Journalismus mit Videos und Fotos verschreiben. Künftig werden es Kontextprofis sein, die personalisierte Szenarien in Kombination mit Algorithmen und Bots realisieren und sich zur neuen Avantgarde des Digitalen aufschwingen. Wir werden überholt von Phänomenen, die wir selbst in Gang gesetzt haben.
Gestaltung im Fluss der Zwischenstände
„Wenn man weiß, dass sowieso alles anders wird, dann ist damit noch nicht entschieden, wie es anders werden könnte“, betont Porombka. Sagen, wie es richtig anders werden könnte, ist wohl die wichtigste Herausforderung im Fluss der Zwischenstände. Welche Öffentlichkeit eine freiheitlich-demokratische Grundordnung braucht, wäre so eine Gestaltungsaufgabe. Wie gehen wir mit den populistischen Anstachelungen des Twitter-Präsidenten Donald Trump, der seine Timeline mit Propaganda flutet und offene Plattformen des Netzes instrumentalisiert, um die offene Gesellschaft abzuschaffen, um? Was machen wir mit Bots, die vorgestanzte Meinungen unablässig wiederholen? Wir müssen endlich merken, wie wichtig es ist, darüber nachzudenken, was eine Öffentlichkeit ist – so profan das auch klingen mag.
Einen Überblick im Digitalen zu bekommen, ist nach Auffassung von Porombka unmöglich. Wir können das Ganze auch nicht mehr rückgängig machen oder einen zentralen Zugriffspunkt erhaschen, um Dinge zu regeln. „Unter den gegenwärtigen Bedingungen wird deutlich, dass es nicht mehr bloß um den Hype des Forschritts geht – es gibt den linearen Fortschritt nämlich gar nicht. Es geht auch nicht darum, einfach nur Content auf eine möglichst innovative Weise in Umlauf zu bringen. Es geht um die Gestaltung von Öffentlichkeit“, so Porombka.
Das kann nicht mehr der große Wurf sein. Die Entdeckung oder Wiederentdeckung einer kritischen Geste würde schon reichen. Kleine Schritte im Alltag ohne Besser-Wisser-Attitüde und Formel-Idiotie zur Bewältigung von Komplexität. Das Notiz-Amt sieht sich da als Experimentierstube. Das gilt auch für Interviews.
+++ Livestream vom 22. Februar um 18:00 Uhr +++
Image (adapted) „Hände“ by (CC0 Public Domain)
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Schlagwörter: #KönigvonDeutschland, digitale Transformation, Experiment, sicherheit, Stephan Porombka, Transformation, Unsicherheit