Journalismus im Netz: mit neuen Erklär-Formaten in alten Filterblasen

Online-Medien haben im vergangenen Jahr verstärkt „Erklär-Formate“ auf ihre Seiten gebracht – seien es Hintergrundtexte mit lexikalischem Charakter oder bessere Infoboxen als interaktive Elemente, neben längst schon bestehenden Faktenchecks, Frage-Antwort-Texten und datenjournalistischen Elementen. Die neuen Erklär-Formate sollen Überblick schaffen und Diskurse strukturieren – und hängen zugleich zwischen Lesergruppen, die häufig entlang ihrer interessegesteuerten Filterblasen zersplittern. Was können Erklär-Formate leisten? Und wie können Filterblasen platzen, damit Diskurse breit wahrgenommen werden? Eine Suche nach Ideen und Antworten auf der re:publica.  

Old stuff in progress: Formate

„Leuchtturmprojekte funktionierten beim Journalismus im Netz bereits gut, mit großen Ressourcen und Teams,“ sagt Markus Horeld, stellvertretender Chefredakteur bei Zeit Online auf dem Panel „Wissensvermittlung im Netz – Was tun, wenn’s komplex wird?“

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Im Alltag hapere es jedoch zuweilen an der Wissensvermittlung hinter dem täglichen Nachrichtenstrom. Dafür seien neue Erklär-Formate gut geeignet. Bei Zeit Online sind das textreduzierte Grafiken, das Format der so genannten „Karten“, sowie das ständig erweiterbare Format des Livedossier. Sie wurden im Herbst 2015 gestartet. Das „Livedossier“ werde fortlaufend aktualisiert, sagt Horeld, es solle Überblick geben und Ursachen einer Entwicklung darlegen, sei es zur Griechenland-Krise oder zum VW-Abgasskandal. Die minimalistisch gestalteten „Karten“ dagegen wirken wie Karteikärtchen, die mit wenig Text Zusammenhänge verdichten und zugleich in ihre Einzelteile zerlegen. Zeit Online ist mit solchen Ideen nicht allein. Auch Spiegel Online hat unter dem Titel „Endlich verständlich“ im vergangenen Jahr ein explizites Erklär-Format gestartet. Bei den Krautreportern findet sich das ebenso vielfach. Solche Texte heißen zum Beispiel „Die neuen Rechten, verständlich erklärt. Das Livedossier eigne sich allerdings nicht für alles, sagt Horeld. „Man stößt an seine Grenzen.“ Das habe die Berichterstattung über Flüchtlinge gezeigt, als sich die Situation im Herbst beinahe täglich anders darstellte. Horeld selbstkritisch: „Wir haben zu einer unübersichtlichen Lage ein unübersichtliches Livedossier gemacht.“ Horeld betont, solche Texte und Grafiken seien nicht für Nachrichtenjunkies gedacht, sondern für Leser, die vielleicht nur einmal die Woche oder noch seltener reinlesen. Erklär-Formate erscheinen damit als eine Möglichkeit, mit der Medien zu einem konkreten Thema (teils unter Vorbehalt) gesicherte Wissensstände zusammenfassen und dem Diskurs darüber eine Struktur geben, bevor sie ihn selbst wieder neu anreichern.

New stuff in progress: Gesetze des Mediums (aus)nutzen

Algorithmen bestimmen den Raum, in dem sich Information im Digitalen bewegt – und damit wie Diskurse im Netz wahrgenommen werden. Wie damit umzugehen ist, war Thema auf dem Panel Wider die Herrschaft der Algorithmen, auf dem Jonas Schlatterbeck, Social Media Manager beim Fernsehsender Arte, Prof. Gerd Gigerenzer, Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin, sowie die Medienwissenschaftler Dr. Juliane Jarke und Dr. Cornelius Puschmann diskutierten. Filterblasen über Priorisierungen bestimmter Inhalte im Newsfeed von sozialen Netzwerken oder personalisiert hochgespülte Suchergebnisse bei Google – was die Menschen erreicht, wird vielfach zum sich selbst verstärkenden um sich kreisenden Informationskosmos. Jarke mahnt: „So engt sich das Weltbild ein.“ Algorithmen arbeiten daran im Verborgenen mit. Die Konsequenz: Nicht mehr Journalisten, sondern Algorithmen seien der neue Gatekeeper in der Distribution von Inhalten im Netz, sagt Schlatterbeck. So wächst die Sehnsucht, ihnen ein Schnippchen zu schlagen.

Drei Beispiele:

  • Aufklärung über die Wirkmacht von Algorithmen: Schlatterbeck sieht dafür die Medien selbst in der Pflicht, indem auch sie sich der Algorithmen bedienten. Als Beispiel führt er eine Serie zum Thema „Tracken“ an, die sie im Social-Media-Team unter einer (thematisch völlig anderen) Überschrift nach dem aggressiven Clickbait-Muster von heftig.co verbreitet haben.
  • Austricksen von Algorithmen: Puschmann schlägt vor, „mehr Dadaismus in der Algorithmen-Welt“ zu wagen. Dafür könne man „sehr effektiv bestimmte Selektionskriterien nutzen“, sprich: durch bewusst erzeugtes Chaos die Filterblase aufbrechen und so den Zufall implementieren.
  • Springen zwischen Algorithmen: Jarke zeigt sich überzeugt, dass Änderungen am Algorithmus ganz bewusst im Sinne des Nutzers bis zu einem gewissen Grad auch von Plattform-Anbietern selbst zu erwarten seien, und zwar als Service-Design, sobald Wünsche der Nutzer einbezogen würden. Der Anfang sei mit bereits laufenden Debatten zu einem „Surprise-me-button“ gemacht – ob für Facebook oder andere Plattformen. Sprich: Gewissermaßen könnten so Sprünge zwischen verschiedenen Algorithmen ermöglicht werden.

Bildungsforscher Gigerenzer plädiert für bessere Förderung von Medienkompetenz, über den Umgang mit Algorithmen im Journalismus hinaus. Er gehört zu den neun Unterzeichnern eines Digitalmanifests, in dem die Experten vor „einer Aushöhlung der Demokratie durch Algorithmen“ warnen. Schlatterbeck – als Social-Media-Manager – plädiert für den Ausbruch aus der Filterblase auch übers Abschalten „als Teil einer Strategie“, etwa mit einem zusammengestellten „Medienmix“, der auch auf Print setzt. Weil das eher die Dichotomie von Print und Online neu betone, die man doch eigentlich als überwunden sehe, warb Puschmann dafür, das unbekannte und damit bedrohliche Wesen „Algorithmus“ besser zu verstehen – um es damit zu entzaubern.


Image (adapted) „Explaining“ by Boris Baldinger (CC BY 2.0)


arbeitet als freie Journalistin in Magdeburg, Berlin und Russland. Sie schreibt über Sachsen-Anhalt, Berlin sowie über das Zusammenspiel von Digitalem und Gesellschaft – und was sie sonst noch bewegt. Russland sowieso und unbedingt. Was dabei so entsteht, findet sich auf www.mgzapf.de. Mitglied des Netzpiloten Blogger Networks.


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