Ich wusste nur im Groben über Estlands Initiative “e-Estonia“ Bescheid, bei der sich Leute aus aller Welt für eine Art E-Bürgerschaft für das am technologisch weiteste Land, nicht nur im baltischen Raum, sondern vielleicht sogar weltweit, registrieren konnten. Zu der Zeit musste man den Ausweis noch in Estland abholen, was ich etwas übertrieben finde (derzeit).
Spulen wir in die heutige Zeit vor, als ich über den Artikel von Ben Hammersley im Wired-Magazin stolperte und erfuhr, dass man sich neuerdings komplett online einbürgern lassen kann. Der Rest kann dann in der örtlichen estnischen Botschaft (bei uns ist die etwa 20 Minuten per Rad oder U-Bahn entfernt) erledigt werden.
Das ist echt aufregend!
e-Estonia ist natürlich keine echte Staatsbürgerschaft, auch wenn sie für überraschend viele Zwecke und Vorhaben einsetzbar ist, die traditionell an eine richtige Staatsbürgerschaft gekoppelt waren.
Derzeit kann man mit e-Estonia ein Bankkonto in Estland eröffnen, ein internationales Unternehmen mit Sitz in Estonia gründen und Online-Autorisierungen handhaben (digitale Unterschriften). Anders gesagt, sie verlagern viele physische Dienste in das Internet (was viele Länder heutzutage tun, aber Estland macht das einfach besser). Der nächste Schritt erlaubt, dass man Estland als Backend für diese Transaktionen nutzt (um es mal technisch auszudrücken), damit niemand warten muss, bis sein eigenes Land mit den Erwartungen der Nutzer beziehungsweise Bürger des 21. Jahrhunderts gleichzieht.
Der gesamte Onlineprozess, vom Seitenaufruf über das Ausfüllen der Formulare bis hin zum Bezahlvorgang, hat nur 7 Minuten und 28 Sekunden gedauert.
Ganz genau: Nur ein bisschen mehr als sieben Minuten, das beinhaltet alle Dropdown-Menüs von Geburtsdatum, dem Ablaufdatum des Passes, über Kreditkartendetails bis hin zu Kontaktdaten. Jetzt warte ich einen Monat lang darauf, dass die estnische Regierung alles prüft und mir Bescheid gibt, wenn ich das Teil abholen kann – das war es! Super einfach, absolut reibungslos und auch nicht teurer als andere Bearbeitungsgebühren.
Hierzu muss allerdings gesagt werden: Ich rede so positiv darüber, weil ich bereits eine ganze Reihe von nervigen, stressigen und langwierigen Interaktionen mit der deutschen Bürokratie hatte und weil ich einige Leuten kenne, die diese Dienste für Großbritannien und die US-Regierung, durch ihre Stellung beim britischen Government Digital Service (GDS) und dem US-amerikanischen Gegenpart, dem USDS, auf eine angenehmere Art aufgebaut haben. Für mich ist es also besser, den “digitalen Service“ der deutschen Ämter zu meiden. Der unkomplizierte und gut durchdachte Verlauf der estnischen, lokal unabhängigen Dienste klingt dagegen enorm verlockend.
All das muss man bedenken, und ich habe keine Zweifel daran, dass an der Stelle, an der Ben Hammersley in seinem WIRED-Artikel einen Repräsentanten von e-Estonia über die Verbindungen zu anderen Regierungen zitiert, dieser auch die deutsche Regierung in der Liste der Länder, die so weit hinterher hinken, dass es nicht einmal etwas bringen würde, mit ihnen zu reden, im Hinterkopf gehabt haben muss. Ich nehme an, so muss es sein, wenn jemand aus dem 21. Jahrhundert versucht, mit jemandem aus dem 12. Jahrhundert über Raumfahrt zu diskutieren. Man müsste hier von Grund an neu zu erklären anfangen. Das lohnt also kaum:
Der Höhepunkt dieser Systeme sorgt für unangenehme Konversationen mit Mitgliedern von bestimmten Regierungen anderer Länder. Auffallend jung, gekleidet wie jemand, der sich einen Anzug geliehen hat, bevor er zum ersten Mal seine Schwiegereltern besucht, hinter einem zerkratzten Tisch, der es nicht einmal in das Büro eines Hausmeisters einer westeuropäischen Hauptstadt geschafft hätte, sitzt mir ein estnischer Regierungsbeamter, der nicht namentlich genannt werden will, gegenüber. Er offenbart, dass e-Estonia eine Reihe ausländischer Delegationen zu Besuch hatte, bei denen sie sich nicht mehr quälen, ein Meeting abzuhalten. Diese Länder, sagt er, sind mit ihrer Art zu denken immer noch so weit hinterher, dass es nicht lohnt, Zeit mit ihren Vertretern zu verbringen. Sie starren uns nur an, sagt er.
In kürzlich stattgefundenen Diskussionen mit Mitarbeitern des GDS, USDS und dem früheren CIO von Puerto Rico, habe ich einmal mehr realisiert, dass Deutschland (soweit ich mitbekommen habe) nicht einmal einen Chief Information Officer (CIO) oder Chief Technology Officer (CTO) hat, falls doch habe ich nichts darüber herausfinden können. Sollte irgendjemand von der deutschen Regierung das hier lesen, würde ich mich freuen, dabei zu helfen, jemanden für diesen Job zu finden, oder die Funktionen dieser Stelle zu definieren. Glücklicherweise gibt es ein paar sehr fähige Teams in mindestens drei Ländern – Großbritannien, USA, Estland – voller großartiger, hilfsbereiter und fürsorglicher Menschen.
Klicken Sie hier, um mehr über e-Estonia zu erfahren.
Dieser Artikel erschien zuerst auf The Waving Cat und steht unter CC BY 3.0 DE. Übersetzung von Anne Jerratsch.
Image (adapted) “Estonia_1467 – Toompea Castle” by Dennis Jarvis (CC BY-SA 2.0)
Screenshot by Peter Bihr
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Schlagwörter: Bürgerschaft, digital, e-Estonia, E-Government, Estland, EU, Peter Bihr, Technologie
2 comments
Immerhin haben (hatten?) wir http://www.cio.bund.de
Cheers
Tinka
Hi Tinka, danke für den Hinweis! Hatte ich tatsächlich nicht auf dem Schirm. Sehr gut!