David Weinberger, Forscher am Berkman Center for Internet and Society (Harvard Law School) ist Co-Autor des 1998 erschienen Cluetrain Manifesto, dass auf prophetische Weise die Grundlagen der heutigen Nutzung des Web als Geschäfts- und Demokratiewerkzeug beschrieb. Der geneigte Leser wird dort das lesen, was wir heute in sehr vereinfachter und reduzierter Form als Web 2.0, also der Netz der Nutzer, kennen. Was denkt der große Denker heute – 10 Jahre später?
Sein neues Buch Everything Is Miscellaneous: The Power of the New Digital Disorder kann man jedem ans Herz legen, der sich mit dem Umgang mit Information und Wissen im digitalen Zeitalter auseinandersetzt. Weinberger geht davon aus, dass Wissen für unser Selbstverständnis zentral ist, da wir uns als wissende Kreaturen bezeichnen und unsere ganze westliche Kultur auf das Anhäufen von Wissen in jeder Form aufbauen. Das wird vor allem dann klar, wenn es uns fehlt. Wenn also Dinge passieren, denen wir keine Bedeutung zumessen können, weil uns schlicht das nötige Wissen über den Kontext fehlt. Das heißt auch, dass Wissen und vor allem das Zurückhalten von Wissen, Macht und Einfluß ermöglichen. Auch in Bezug auf Medien kann Wissen finanziellen Erfolg bedeuten (ich erspare uns allen jetzt eine Randbemerkung s.u.). Zusammenfassend hält Weinberger eines für essentiell, wenn sich rund um das Wissen irgend etwas Grundlegendes ändert, wird das wohl auch auf unsere Kultur direkten Einfluß haben. Das Web ist offenbar so etwas Grundlegendes.
Was ist dieses Wissen?
Zunächst ist Wissen etwas Singuläres. Es gibt in der westlichen Welt keine Sprache mit einer Mehrzahlform für Wissen (ähnlich Mehl, Wasser, Himmel). Dann ist Wissen binär (zweiwertig). Entweder man weiß etwas oder eben nicht. Es können nicht zwei sich widersprechende Wahrheiten über dasselbe Ding in der Welt existieren. Wissen ist daher ebenso binär wie die kleinste Informationseinheit in der Computerwelt: AN oder AUS.
Wissen ist einfach
Alles in der Welt hat seinen einen Platz zur selben Zeit und ist auch nicht an zwei Orten gleichzeitig. Das liefert eine grundlegende Ordnungsstruktur. Wissen ist ein knappes Gut, aber wenn es einmal erreicht ist, dann ist es fest und in Stein gemeißelt, bis ein neues Wissen das alte ablöst. Wer aufmerksam mitgelesen hat, wird feststellen, das all diese Kriterien nicht zufällig auch auf Bücher zutreffen. Das Medium Buch reflektiert also unser Verständnis von Wissen in körperlicher Form. Im Rahmen der Evolution hat der Mensch sich des Wissens vergewissert, indem er Dinge wie Tafeln oder Papier oder Computer benutzte, um einige Teile des Wissens aufzuschreiben oder auszugliedern, um sich zu entlasten und das Denken zu vereinfachen — wie beispielsweise das Rechnen mit Taschenrechnern.
Um diese Hilfen des Denkens zu verbessern, haben die Menschen das Wissen zunächst aufgeschrieben und fangen nun an möglichst alles zu digitalisieren und das so gespeicherte Wissen dann zu verbinden. Wenn man eines Tages ein eBook erfände, das sich mit anderen verbinden würde sowie mit dem Netz, hätte man eine Chance soziales Lesen einzuführen. [Warum das nicht mit dem normalen PC, Mobile Phones und Netbooks geht, verstehe ich nicht so ganz… aber weiter im Text, vielleicht kennt er die Handyromane der Japaner nicht].
Das Digitalisieren und Verbinden von Informationen hat enorme Auswirkungen auf das Wissen: Überfluss
Wir leben in den Zeiten des Überflusses, nicht Überfluss an Geld oder Wasser aber eben an digitalisiertem Wissen. Es gibt aber auch einen Überfluss an Mist, an Überflüssigem. Leider sind wir gut darin, mit dem Überfluss des Schlechten und Unnützen umzugehen (Spamfilter) nicht aber darin, mit dem vielen hilfreichen Wissen etwas anzufangen. Denn wir haben immer und zu allen Zeiten festgelegt, dass es nur wenige gute Leute gibt, dass nur wenig gute Inhalte zur Verfügung stehen, dass all dies sehr teuer ist, wenn man dazu einen Zugang haben wollte.
Jetzt gibt es viele sehr gute Texte und Ideen überall im Web kostenfrei. Die Institutionen, die versucht haben darauf ein Geschäftsmodell aufzubauen, zerfallen gerade [man beachte meinen Hinweise ganz am Anfang]. Sie können mit diesem Überfluss nicht umgehen und sind zu wenig flexibel ihn zu begrüßen, zu nutzen oder konstruktiv einzusetzen. Denn sie können ihre Vorteile nicht skalieren mit den Mengen an Inhalten. Und sie können sie auch nicht kontrollieren. Auch das ist offenbar, da Kontrolle nie skalierbar ist. Kontrolle ist eine Operation des 1. und 2. Jahrtausends. Sie funktioniert nicht in Zeiten des Überflusses von Wissen.
Links/Verbindungen
Früher hatte alles Wissen seinen Platz und konnte durch seine Registrierungs- oder Archivnummer gefunden werden. Jetzt ist alles mit allem verbunden. Keiner weiß, was wirklich wichtig ist und was wichtig sein wird und vor allem warum. Wenn man die alte Datenbankstruktur hinter sich lässt, kann alles mit allem verbunden sein. Alle Zusammenhänge werden offenbar. So sind ja auch Menschen miteinander verbunden. Jeder kennt jeden über fünf Ecken [S. Milgram: Small world phenomena]. Und wenn man solche unübersichtlichen Zusammenhänge visualiseren würde, wäre in diesen unzähligen Verbindungen schon wieder viel neues Wissen enthalten.
Wer all dieses entwirren wollte, würde etwas Wesentliches zerstören: Wissen und Relationen.
Man könnte nun eine Übersicht durch Tagging/Schlagworte einführen, was ganz nett ist, aber Weinberger erklärt, dass zum Beispiel in der Encyclopedia Britannica der Artikel über Philosophie 180.000 Wörter enthält, wogegen der Artikel bei Wikipedia “nur” 9000 Wörter umfasst, was für deren Verhältnisse immer noch sehr viel ist. Jetzt könnte man denken, dass die Engländer viel schlauer sind, weil sie ja 20 Mal mehr Wissen unter den Begriff untergebracht haben. Aber bei Wikipedia sind unzählige Links hinter den wenigen Wörtern und damit ist bedeutend mehr und spezifischerer Inhalt vorhanden. Das heißt, das meiste Wissen bei Wikipedia liegt hinter der Fassade. Jeder kann also je nach Kontext in die Tiefe der Bedeutung von Teilbereichen einsteigen, wo er oder sie es braucht und möchte.
Links erlauben also einen viel besser vernetzten Zugang zu dem Wissen, das im Moment gebraucht wird. Diese Politik der “losen Enden” entspricht mehr unserer Art zu Denken und Verbindungen im Wissen zu knüpfen oder zu stärken. Links sind aber noch etwas Anderes, sie sind freigiebig. Auf jedem Blog sind viele Links, die den Besucher woanders hin verweisen, obwohl der Blogschreiber doch viel lieber selber gerne Leser hätte. Insofern sind Links ein Zeichen für eine freigiebige Kultur.
Transparenz als neue Autorität
Wer also Einsicht in seine Methoden liefert, wie man auch bei Wikipedia erkennen kann, an den teilweise leidenschaftlichen Diskussion, der erhält auch Authorität. Weil man eben alles nachvollziehen kann. Es steht ja auch jedem frei selbst an die Texte Hand anzulegen, wenn man meint, es besser zu wissen. Ein Lexikon eines großen Verlages tritt immer auf, als wäre das enthaltene Wissen irgendwo im Weltraum entstanden, wir können nicht erkennen, warum eine bestimmte Behauptung aufgestellt wurde. Bei Wikipedia ist das möglich. Fast jeder Satz wird umfassend diskutiert – zumindest bei vielen wichtigen Einträgen.
Und genau das unterscheidet ja auch unser Selbstverständnis jetzt im Gegensatz zu der Zeit vor dem Internet. Weil wir uns unserer Möglichkeiten und Verbindungen miteinander immer wieder im Web versichern können und damit einerseits mehr Wissen schaffen, das mit anderen zusammen erstellt wurde und gleichzeitig damit eine Verbindung der Menschen untereinander und mit dem Wissen immer wieder neu aktualisiert wird. Das ist das Neue am Internet. Es ist immer in Bewegung und hält durch genau diesen vermeintlichen Mangel an Halt viel besser alles zusammen, weil wir eben auch immer in einem Status des Übergangs sind.
Bildnachweis: Copyright liegt bei Steffen Büffel
Artikel per E-Mail verschicken
Schlagwörter: Überfluss, Weinberger, wissen
2 comments