Was Frank Underwood vom politischen Theater der 60er Jahre lernte

Mit dem fiktionalen Charakter des Labour-Politikers Nigel Barton hat der britische Theater-Autor Dennis Potter schon in den 1960er Jahren die Grundlage für Frank Underwood und die Politikserie House of Cards gelegt.

Mehr als 20 Jahre nach seinem Tod zählt Dennis Potter nicht zuletzt aufgrund einer Reihe von TV-Dramen aus seiner Feder noch immer zu den bedeutendsten TV-Autoren Englands. Er bleibt insbesondere für seine Lippensynchronisation verschiedener Charaktere zu populären Songs in Erinnerung, die er auf unvergessliche Weise in “Pennies from Heaven” (1978) und “The Singing Detective” (1986) vorführte. Und zusammen mit erwachsenen Schauspielern spielte er in “Blue Remembered Hills” (1979) eine Kinderrolle.

Potters Popularität, die sich in diesem Monat zum 50. Mal jährt, gelangte erst mit den Stücken von Nigel Barton zu ihrem Höhepunkt- einer Zusammenstellung von halbautobiographischen Dramen, die zunächst als Teil der BBC-Reihe “Wednesday Play” gesendet wurden. Diese festigten seinen Ruf als aufregender, neuer Schauspieler und bescherten ihm zahlreiche Preise. Viele erinnern sich noch heute an ihn – so veröffentlichte die BBC vor kurzem eine umfassende Dennis-Potter-Sammlung, die auch die zuvor genannten Werke enthält. Die Stücke bewegen auch heutige Zielgruppen dazu, über die derzeitige Politik zu sprechen.

Sie handeln von der ehrgeizigen und idealistischen Persönlichkeit des Nigel Barton, dem potenziellen Kandidaten der Arbeiterpartei, der ein ein karikaturhaftes Alter Ego von Potter darstellt. Gespielt wird dieser von Keith Barron, der erstmals bei “Stand Up, Nigel Barton” auftrat. Dies wurde erstmalig am 8. Dezember 1965 ausgestrahlt. Rückblicke zu Bartons Schulzeiten werden seiner Zeit als Arbeiterkind in der Universität von Oxford gegenünbergestellt, in der er sich wohl kaum mehr fehl am Platz fühlen könnte. Die Schulszenen sind bemerkenswert, weil Potter in diesen zum ersten Mal auf den Einsatz erwachsener Schauspieler als Kinderdarsteller zurückgreift.

Bereits sein zweites Stück “Vote, Vote, Vote for Nigel Barton” ist für uns heute ganz besonders ansprechend. Das Stück wurde nur eine Woche nach der Erstaufführung am 15. Dezember 1965 ausgestrahlt. Es handelt sich um eine wenig verhüllende Darstellung von Potters Erfahrungen als Labour-Kandidat der Wahlen 1964, in denen er chancenlos gegen die Konservativen der East Hertfordshire (im Stück in West Barset geändert) antritt.

Einen großen Anteil des Charmes ist dabei Jack Hay zuzuschreiben, dem Wahlkampfpartner von Barton (dieser wird ganz wunderbar von John Bailey gespielt). Wie Barton bewegt er sich durch West Barset, um Wähler zu werben. Diese sind jedoch nicht sonderlich interessiert. Hay greift zur Kamera und durchbricht die vierte Wand, um das Publikum mit zynischen Kommentaren auf die ganze Sinnlosigkeit des konventionellen politischen Prozesses aufmerksam zu machen.

Er macht uns so zu Mitverschwörern, und zeigt auf, dass man “eine Menge Gutes” an dem jungen und idealistischen Kandidaten der Sozialisten finden kann. Er sagt aber auch: “Trotzdem würde niemand seine Stimme für Nigel Barton abgeben, auch in einer Million Jahren nicht”. Stattdessen sei alles, was zählt, dem Wechselwähler zu gefallen, und zwar samt “Haus, Auto, sowie 2,8 Kindern”.

Drehbuchautor Andrew Davies griff auf ähnliche Weise auf diese Stilmittel zurück, als er Michael Dobbs´ Roman “House of Cards” für die BBC im Jahr 1990 adaptierte, genau wie das erfolgreiche US-amerikanische Remake mit Kevin Spacey. Wenn sich Spacey als Frank Underwood mal wieder zur Kamera dreht und uns seine Sicht auf die Dinge darlegt, ist dies eine Verbeugung vor der politischen TV-Tradition, die mit “Vote, Vote, Vote for Nigel Barton” ihren Anfang nahm.

Die schmutzige Wahrheit

Das Hauptthema von “Vote, Vote, Vote” beinhaltet, dass, um Potter selbst zu zitieren: “es in der Parteipolitik praktisch gar mehr darum geht, sich um echte Probleme zu kümmern.” Je öfter Nigel Bartons Sichtweise dargelegt wird, desto deutlicher wird die unschöne Wahrheit des modernen Stimmenfangs aufgezeigt. Diese wird durch seine Frau und Hampstead-Sozialistin Ann (gespielt von Valerie Gearon). Sie tadelt ihn, dass früher oder später alle Anführer der Labour-Partei einen Kompromiss zu ihren sozialistischen Idealen eingehen müssen und ihre “weißbehandschuhte Hand” küssen müssen. Es ist ein Bild, das auf ein Ereignis von vor 50 Jahrenm Bezug nimmt: als Jeremy Corbyn nicht wusste, ob er die Hand der Königin küssen sollte, als er dem Staatsrat beitreten sollte.

Bartons Dilemma beinhaltet, dass es für ihn ein Leichtes wäre, sich wie Ann zu verhalten. Wenn er jedoch die “Reinheit” seiner Ideale gewährleisten wolle, indem er seine Kandidatur zurückzöge, wie sollte sich dann jemals etwas ändern? Viel eher sollte man in die Welt hinausgehen, um Veränderungen zu erreichen – aber was ist, wenn diese Welt zu guter Letzt gar kein Interesse an einem Wohlstand für alle hat, oder gar das Gegenteil durchsetzen möchte?

Bei der Wählerwerbung durchlitt Barton Angstzustände, falls er gefragt werden würde: “Was wollen Sie für die Schwarzen tun?” Genau das passierte Potter schließlich tatsächlich, als im Jahr 1964 eine Wählerkampagne durchführte. Während er sich mit dem potentiellen Wähler stritt, trat ihm sein Wahlhelfer gegen das Schienbein. Er erzählte später, dass es eben dieser Moment war, als er erkannte, dass er “falsch handelt”. Man kann sich leicht vorstellen, wie ein Kandidat der Labour Partei heute Fragen von traditionellen Kernwählern mit UKIP-Sympathien zum Thema Einwanderung beantworten muss.

“Kompromisse, Kompromisse – das ist der Weg für dich, hervorzustechen”, neckt Ann ihren Mann in dem Theaterstück. Die Labour-Partei hatte sehr wahrscheinlich das gleiche Problem während ihrer Nachkriegsgeschichte. Man kann ein paar Blair-ähnliche Kompromisse mit den Wirtschaftsmächten eingehen – aber wann werden die Kompromisse zu viel? Oder haben Sie vor, zu Ihren sozialistischen Idealen zu stehen und das Risiko einzugehen, am Ende doch nur die Basis anzusprechen, und dabei die Wechselwähler und ihr “Haus, Auto und 2,8 Kinder” zu ignorieren?

Sobald Corbyn und die Labour-Partei von heute sich entschieden haben, können sie uns Bescheid geben.

Dieser Artikel erschien zuerst auf “The Conversation” unter CC BY-ND 4.0. Übersetzung mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.


Image (adapted) “Kevin Spacey” by Paul Hudson (CC BY 2.0)


 

ist Professor für Medienwissenschaften an der Kaledonischen Universität Glasgow. Sein Forschungsgebiet umfasst die Geschichte des Fernsehens und verschiedener Medieninstitutionen sowie Dramaturgie und Drehbucherstellung.


Artikel per E-Mail verschicken
Schlagwörter: , , , , , , , ,

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert