Unsere Gesellschaft wird inzwischen eher von Technologie als von Religion geprägt – der Graben verläuft zwischen antimodernen Fundamentalismus und der postmodernen Mentalität der Jugend. Trotz aller Konflikte darf man sich keiner der beiden Welten entziehen. Kürzlich haben Extremisten sowohl bei dem Anschlag auf die Planned Parenthood Federation of America als auch bei der Schießerei in San Bernardino die hässliche Fratze der Religion enthüllt. Der Einfluss dieser Taten und die Demagogie der Wahlkampfperiode erzeugen in den USA Angst und Empörung. Inmitten dieser nationalen Kämpfe bereiteten sich viele Familien auf einen viel persönlicheren religiösen Kampf vor: die Frage, ob sie an Weihnachten in die Kirche gehen sollten oder nicht. Amerikaner identifizieren sich zunehmend nicht mehr mit Religion, wobei es signifikante Generationsunterschiede gibt.
Das Pew Research Center berichtete dieses Jahr, dass 35 Prozent der Milleniums-Generation, auch Generation Y genannt, also diejenigen, die zwischen 1981 und 1996 geboren sind, religionsfrei sind. Viele junge Leute durchschreiten eine Kirchentür wahrscheinlich nur noch, um ihre Eltern an Weihnachten und Ostern zu besänftigen. Diese disparaten Trends beziehen sich alle auf das gleiche Phänomen: den kulturellen Wandel.
Das Alte und das Neue
Religiöse Extremisten wollen die Uhren der Moderne zurückdrehen, um eine Zeit wieder herzustellen, in der moralische Entscheidungen einfach waren und die Werte der Alten Welt vorherrschten. Die alten institutionellen Formen lassen sich hingegen nicht mit der postmodernen Mentalität der Generation Y vereinbaren.
Die Reaktion der Fundamentalisten auf die Moderne ist vorhersehbar. Sie fühlen sich bedroht von Individualismus, dem Umkippen der traditionellen Werte und der schrittweisen Dezimierung von Institutionen, die geschichtlich gesehen die moralische Ordnung aufrechterhalten haben. Neuartig bei der Reaktion der Fundamentalisten ist, dass sie moderne Technologien nutzen, um für ihre rückschrittliche Moral zu werben.
Die gleiche Technologie erweitert den Horizont der Generation Y mehr, als ihn einzuengen. Wie ich in meinem Buch „Finding Faith” dargelegt habe, bedeutet Tradition ihnen wenig. Sie wählen aus verschiedensten Optionen, darunter auch eine große Anzahl an Religionen und verschiedene andere Formen von Spiritualität.
Der gemeinsame Nenner der Fundamentalisten und des Individualismus der Generation Y ist die Über-Auswahl. Für die Ersteren ist Auswahl eine Bedrohung. Für die Letzteren ist sie eine Möglichkeit zur Selbstdarstellung.
Eine Bedrohung aus zwei Richtungen
Bei vielen Amerikanern erzeugen beide kulturellen Trends Angst. Einheimischer Terrorismus erscheint als eine größere Bedrohung, wenn jeder mit jeglicher religiösen Tradition über das Internet radikalisiert werden kann. Und viele Großeltern machen sich Sorgen darüber, wie jüngere Generationen Sinn, Moral und selbst ewige Erlösung ohne Religion finden sollen.
In der Position des Großvaters verstehe diese Sorge durchaus, aber als Religionswissenschaftler bin ich sehr optimistisch bezüglich unserer Zukunft. Mit einer geliehenen Formulierung aus dem Feld der Ökonomie ausgedrückt, befindet sich die Durchschnittsreligion in einer Periode der kreativen Zerstörung. Vielleicht bricht sie auseinander, aber die heutige Kultur bietet der Religion auch die Möglichkeit, sich selbst zu erneuern.
Man muss nur die grauen Köpfe in den meisten Kirchen und Synagogen betrachten, um zu erkennen, dass diese Institutionen innerhalb dieser einen Generation so gut wie erschöpft sein werden. Ja, Mega-Kirchen mit hippen Pfarrern und zeitgemäßer Musik werden weiterhin Publikum anziehen, aber solche Gruppenversammlungen und kollektive Rituale können sich oberflächlich und leer anfühlen. Auch Mega-Kirchen sehen das Interesse und die reguläre Anwesenheit von jungen Erwachsenen schwinden.
Die alte christliche Kosmologie – Gott sendet einen Sohn, um die Welt zu erlösen; ein Gott, der allmächtig ist und doch, im Angesicht von Massengewalt, ohnmächtig zu sein scheint – funktioniert grundlegend für viele gebildete junge Erwachsene einfach nicht. Das Prinzip „spirituell, aber nicht religiös” zu sein, pauschalisiert das Verständnis der Menschen von Spiritualität, aber es signalisiert auch die Möglichkeit, dass der menschliche Geist nach etwas Tieferem als dem neuesten technologischen Schnickschnack strebt.
Ich bin der Ansicht, dass religiöse Institutionen die Vermittler der vier fundamentalen menschliche Bedürfnisse sind: dem Bedürfnis nach Gemeinschaft, den Ritualen der Erneuerung und Hoffnung, der Erfahrung, über sich selbst hinauszugehen, und des tieferen Sinn und Zwecks unseres Lebens.
Wenn religiöse Institutionen diese Erfahrungen nicht mehr länger übermitteln, brechen sie zusammen und neue Formen treten hervor. Zu Beginn fühlen sich diese neuen Formen vielleicht nicht so an und sehen auch nicht so aus wie die alten Religionen. Wahrscheinlich bestehen sie aus Kombinationen verschiedener Glaubensrichtungen und Glaubenspraktiken, die die älteren Menschen, welche die Verwahrer der institutionellen Erinnerungen sind, verunsichern. Aber unsere derzeitige Periode der kreativen Zerstörung wird womöglich das Saatbeet sein, auf dem die neuen Formen des religiösen Lebens keimen werden.
Das Prinzip der Achtsamkeit, bezogen aus Quellen der östlichen Religionen, findet beispielsweise bei vielen Amerikanern Resonanz. Eine wachsende Anzahl an Christen nimmt an kontemplativen Praktiken teil, eher auf der Suche nach einer Gotteserfahrung als nach einem abstrakten Glauben.
Leider sind auch die Fundamentalisten erfolgreich darin, die Bedürfnisse nach Gemeinschaft, Erneuerung, Selbstfindung und Sinn zu erfüllen. Antimoderner Fundamentalismus mit Computererfahrung – ein faszinierendes und Angst einflößendes Paradoxon – wird nicht in absehbarer Zukunft aussterben. Weniger bedrohlich ist, dass sowohl Mega-Kirchen als auch Achtsamkeits-Meditationen therapeutische Versammlungen für gleichgesinnte Menschen anbieten können, was in diesen Zeiten der Angst und des kulturellen Flusses beruhigend ist.
Neue Formen treten hervor
Zur selben Zeit experimentieren sowohl die Religionsfreien als auch die Mitglieder der existierenden religiösen Institutionen mit neuen Formen von spirituellen Praktiken und bewussten Gemeinschaften. Sie verteilen Nahrungsmittel an Obdachlose, versammeln sich in Waschsalons, um mittellosen Arbeitern einen kostenlosen Waschservice anzubieten, und überschreiten allgemein eher die Möglichkeiten, die die Glaubensgemeinschaften traditionell definieren. Mit Bewegungen wie #blacklivesmatter erschaffen sie Rituale, die Ungerechtigkeiten kritisieren und die Gemeinschaft und sie selbst heilen.
Die Bereitschaft, mit religiösen Glaubensformen zu experimentieren, hat vorherig die Katholische Arbeiterbewegung hervorgebracht, bei der zeitgemäße klösterliche Ordnungen nach den Modellen des früh-modernen Europas, und Erneuerungsbewegungen aus jeglichen Glaubenstraditionen gestaltet wurden. Religiöse Institutionen können innerhalb eines menschlichen Lebens unveränderlich wirken, aber innerhalb eines Jahrhunderts oder Jahrtausends entwickeln sie sich kontinuierlich.
Es braucht Zeit, bis sich unsere kollektiven religiösen Impulse mit den neuen Formen zurechtfinden. In der Zwischenzeit wird es wahrscheinlich einige besorgte Großeltern geben, die um die Erlösung ihrer Nachkommen fürchten.
Dieser Artikel erschien zuerst auf “The Conversation” unter CC BY-ND 4.0. Übersetzung mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.
Teaser & Image „Kreuz“ by HannahJoe7 (CC0 Public Domain).
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Schlagwörter: Anschläge, Christen, Extremismus, Fundamentalisten, Generation Y, Jugend, Moderne, Muslime, Religion, Technologie