Zusammen mit Professor Lutz Becker, Studiendekan der Hochschule Fresenius, bereite ich gerade einen Utopie-Band vor. Darauf ausgerichtet war ja unser #KönigvonDeutschland-Podcast. Als Einstieg wollen wir einen fiktiven Dialog wählen. Ungefähr so:
„Wir müssen Euch auf eine Welt vorbereiten, die weder Ihr kennt noch die wir kennen – Ein Gespräch, das so nie stattgefunden hat.“ Und zwar in der Zukunft – im Jahr 2040 auf der Terrasse eines der letzten Kölner Cafés. Während die Stadt wegen der sich in den Sommermonaten anstauenden Hitze praktisch unbewohnbar geworden ist, laden die sturmfreien Tage im Winter zum Aufenthalt im Freien ein.
Scheingefechte verhindern die Energie- und Verkehrswende
Auf die Frage nach den verpassten Chancen im Umweltschutz antworte ich: Scheingefechte erschwerten ja auch die nötige Energie- und Verkehrswende. Knapp 70 Prozent der Berufspendler fuhren damals mit dem Auto zur Arbeit, versauerten im Stau, belasteten die Umwelt und ärgerten sich über den Verlust an Lebensqualität. Der durchschnittliche Besetzungsgrad im Berufsverkehr lag nach Analysen des Umweltbundesamtes bei rund 1,2 Personen pro PKW und war damit der niedrigste aller Fahrtzwecke. Rund zehn Millionen waren täglich länger als eine Stunde unterwegs. Über sechs Millionen fuhren mehr als 25 Kilometer zu ihrem Arbeitsplatz. Wir hätten viel schneller die Arbeit zu den Mitarbeitern bringen sollen, wie beim Ausbruch der Corona-Krise.
Wir brauchen mehr Immobilität
Also ein Lob der Immobilität. Jeder nicht gefahrene Kilometer entlastet den Verkehr, senkt die Emission von klimarelevanten Treibhausgasen um 141 Gramm pro Personenkilometer und macht Menschen stressfreier. Ich selbst hatte bereits 2019 mein Auto abgeschafft und kaufte mir auch kein E-Auto, das im gleichen Stau wie die Verbrenner stehen würde. Im Schnitt legten wir in Deutschland 16 Kilometer zum Arbeitsplatz zurück. 20 bis 32 Kilometer pro Tag können wir auch mit dem E-Bike bewältigen – ohne ins Schwitzen zu kommen. Wenn wir von E-Mobilität reden, sollten wir stärker auf Fahrräder schauen und nicht auf Autos. Viele Anbieter hatten sich da positioniert, bei denen man zu günstigen Konditionen Jobräder bekommen konnte und kann. Das einzige, was wir damals brauchten, waren mehr Steckdosen – ganz einfach.
Soweit der kleine Abstecher in den Band zu politischen Utopien, der in nächster Zeit erscheinen soll.
Abstruse Meinungsmache gegen dezentrale Arbeit
Wenn ich mir aktuell anhöre, mit welchen blöden Klischees selbst zarteste Verkehrs- und Energiewende-Pflänzchen zertreten werden, könnte meine futuristische Rückschau schneller Realität werden, als ich gedacht hätte. Gemeint sind die abstrusen Vorurteile und aberwitzigen Kommentare, die gegen Home Office oder dezentrale Arbeit in die Welt gesetzt werden. Etwa die vermeintliche Stressfalle. Nachzulesen in der FAS. Deutschland erlebe gerade nicht nur die wahrscheinlich schwerste Gesundheits- und Wirtschaftskrise seit Gründung der Bundesrepublik. Auch sei diese Zeit das größte Home Office-Experiment aller Zeiten.
„Wer sich im Freundes- und Kollegenkreis umhört, dem drängt sich dieser Tage allerdings folgender Eindruck auf: Das Arbeiten im Home Office ist schlechter als sein Ruf. Die Verheißung, dass der selbstbestimmte Arbeitsalltag in der eigenen Wohnung glücklicher macht, scheint für viele neue Heimarbeiter nicht in Erfüllung zu gehen“, schreibt Johannes Pennekamp. Wenn mein Arbeitgeber scheiße ist oder Vorgesetzte sich als Fehlbesetzung erweisen, würde wohl selbst ein Arbeitsplatz auf Hawaii nicht für Besserung sorgen. Dem FAS-Autor sei die jährliche Studie des Gallup-Instituts zur Arbeitszufriedenheit in Deutschland empfohlen.
Aberwitzige Gegenbeispiele
Die Vorstellung, dass ein Heer von Heimarbeitern die Volkswirtschaft am Laufen halten kann, führe in die Irre, meint Pennekamp. Es folgt eine Endlosschleife mit Aufzählungen von Berufen, die sich nicht ortsunabhängig organisieren lassen: Landwirte, Kellner und etliche andere Dienstleistungsberufe müssten vor Ort erledigt werden. In Deutschland sei das Potential für das Home Office jüngsten Erhebungen zufolge etwas höher als in den Vereinigten Staaten: „Es liegt nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung dennoch nur bei etwa 40 Prozent der Beschäftigten“, so der Sonntagsökonom Pennekamp. Die DIW-Zahl ist doch prächtig. Fast jeder zweite Arbeitsplatz in Deutschland könnte dezentral organisiert werden. Wir könnten in Deutschland auf zirka 9 Millionen PKWs pro Tag verzichten, die sich morgens und abends durch den Berufsverkehr quälen. Die andere Berufstätigen könnten ja mal auf die obige Rechnung schauen und die Anschaffung eines flotten E-Bikes überlegen.
Alkoholismus-Problem im Handelsblatt-Verlag
Den Vogel abgeschossen hat jedoch die Handelsblatt-Redakteurin Carina Kontio „Im Homeoffice zum Alkoholiker? Warum die Corona-Krise so gefährlich ist“. Dramatischer geht es wohl nicht. Die Behauptungen beruhen auf einem Interview mit Andreas Jähne, Ärztlicher Direktor der Oberberg Fachklinik Rhein-Jura in Bad Säckingen. Und was sagt der nach der ersten Frage: „Es ist schwer einzuschätzen, was jetzt passiert. Wir haben derzeit noch keine belastbaren Zahlen zum Alkoholverkauf oder andere Erhebungen über den Konsum…“ Das ist ein Überschuss an Vermutungen und Meinungen auf einem ganz dürftigen Niveau.
Hier fühlt sich wohl jeder berufen, irgendwelche Thesen in die Welt zu pusten, ohne auch nur die leiseste Begründung dafür abzugeben oder auch nur den Hauch einer Kausalität in den Raum zu stellen.
Ladenhüter-Rhetorik des Arbeitgeberverbandes
Gleiches gilt für die Tiraden des Arbeitgeberverbandes gegen die Initiative des Bundesarbeitsministers, einen Rechtsanspruch für Home Office anzustreben. Gerade jetzt könnte man an die positiven Signale der Corona-Krise anknüpfen und die Dezentralität in der Arbeitswelt zum Standard machen. Also Wertschöpfungsnetzwerke schaffen und sich als technologische Avantgarde in Szene setzen, werte Vertreter des Arbeitgeber-Lagers, und nicht Ladenhüter-Gegenargumente aus den 1990er Jahren servieren. So genannte Cloud-Belegschaften sind technologisch schon längst möglich. Man braucht sich nur das Interview mit der SAP-Managerin Frauke von Polier anschauen.
Im Mittelstand und in den Konzernen ist man schon viel weiter als die Chef-Lobbyisten der „Gestern-Zeit“. Die haben nur Angst um ihre Pfründe: Dicke Dienstwagen, schöne Reisen und Schlemmern auf Spesen bis der Arzt kommt. So verspielt man Zukunft.
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Schlagwörter: Coronavirus, new work