Zur Berlinwahl

Die bevorstehende Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus (Twitter: #ahw11) dürfte in vielerlei Hinsicht eine spannende Wahl im Web-Abend liefern.

Etwas mehr als eine Woche vor dem Wahltag sieht es so aus, als würde die Sendung am 18. September auf eine Art „Piraten-Special“ zusteuern. Doch dazu später mehr – in den Vorbesprechungen zur Sendung haben wir verschiedene Themen diskutiert, die aus der Netzperspektive relevant sind, hier ein kurzer Abriss dazu.

Berlin erlebt einen Online-Wahlkampf. Ja, das klingt trivial, ist es aber nicht. Der Vergleich mit den letzten Landtagswahlen (MV, RLP, HH, HB, BW nur teilweise) zeigt, dass die digitale Arena in Berlin tatsächlich parteienübergreifend erkannt und betreten worden ist. Das war in den anderen Bundesländern schlicht und einfach nicht der Fall. Die Berliner CDU hatte schon früh im Jahr ihren Programmfindungsprozess „gecrowdsourced“ (oder „crowdgesourced“?), die SPD hat mit Björn Böhning einen Netzpolitik-Experten am Start, die Grünen lancierten (unter anderem) eine kollaborative Kampagnen-Plattform und die Linkspartei denkt über das Netz für alle nach. Die FDP bestätigt leider ihre Gesamt-Performance, von den Piraten wird noch zu reden sein.

Berlin ist noch immer eine geteilte Stadt – digital. Oha, das klingt 50 Jahre nach dem Mauerbau möglicherweise provokanter als es ist. Doch scheinen große Unterschiede im urbanen Vernetzungsgrad bzw. in der digitalen Durchdringung der Hauptstadt-Kieze mehr als wahrscheinlich. Berlin ist zwar an zweiter Stelle im Ländervergleich des (N)Onliner-Atlas 2011 notiert, und ein Onliner-Anteil von 79,3% wirkt durchaus imposant. Kaum Antworten gibt es aber bislang auf die Frage, ob sich das analoge Fünftel gleichmäßig über die Stadt verteilt, oder ob es nicht eher „Enklaven des Analogen“ gibt. Folgt man der These, dass sich im verdichteten Raum der Städte bestimmte gesellschaftliche Schief- und damit Problemlagen besonders deutlich zeigen, dann dürfte man auch im Bereich des „digital divide“ fündig werden. Politisch gesehen wäre das ein spannender Ansatz für Digitaliserung als Maßnahme moderner Stadtentwicklung – so weit zielen die Wahlprogramme freilich nicht, doch es ist sicher ein Thema mit Zukunft. [Hinweise auf Daten, Untersuchungen, Initiativen und Projekte hierzu sind stets willkommen.]

Berlin ist die Stadt der deutschen Netzpolitik. Ein wichtiger Unterschied zu den bisherigen Landtagswahlen des Jahres ist der Stellenwert der Netzpolitik im Wahlkampfgeschehen. Üblicherweise tritt das noch junge Politikfeld auf Länderebene kaum in Erscheinung, denn die meisten relevanten Debatten und Entscheidungen hierzu finden auf Bundesebene statt. In Berlin stellt sich das etwas anders dar, denn die maßgeblichen Akteure des Politikfeldes sitzen in Berlin und sind somit wesentlich besser sichtbar – auch wenn Netzpolitik keine substanzielle Rolle bei der Themensetzung für die Wahl zum Abgeordnetenhaus spielt. Trotzdem bleibt Berlin die Stadt von Internet-Enquete und digitaler Gesellschaft, hier wohnen Markus Beckedahl, Sascha Lobo und der Chaos Computer Club, und es gibt das betahaus, Soundcloud und bald auch das Google-Institute. Auch wenn die Rede von Berlin als „The World´s Next Silicon Valley“ manchmal etwas bemüht daherkommt, so hat sich dadurch ein bundesweit einzigartiges Biotop für netzpolitische Themen gebildet.

Berlin kennt offene Daten. Die Berliner Affinität zur Netzpolitik zeigt sich auch am Beispiel der in Deutschland bisher eher stiefmütterlich behandelten Offenen Daten (Open Data). Während anderswo die gemeinschaftliche Bearbeitung öffentlich hergestellter und verfügbarer Daten längst als zentraler Ansatzpunkt für die Renovierung öffentlicher Verwaltungsprozesse angesehen wird, versperren sich hierzulande viele Behörden dem offenen Umgang mit digitalen Daten. In Berlin hat sich zuletzt auch durch die Aktivitäten im Senatsbüro des linken Spitzenkandidaten Harald Wolf einiges getan – der Open Data Day im Mai 2011 hat zahlreiche Projekte und Initiativen zusammengeführt, kurz nach der Wahl findet das viel versprechende Open Government Camp statt. Verwaltungsmodernisierung im Dialog mit der digitalen Bürgerschaft ist ein Zukunftsthema, das in Berlin auf einen fruchtbaren Boden fallen wird – doch im Wahlkampf 2011 steht man damit noch allein auf weiter Flur.

Berlin hat den Piraten-Faktor. Nach einem breit gestreuten Vorlauf nun aber zum vermutlichen main act im Berliner Wahlkampf aus der Netzperspektive – der zumindest in den Umfragen prozentual gut nachvollziehbare Aufstieg der Piratenpartei scheint zur cover story für die letzten Wahlkampftage zu werden. Die massive Medienpräsenz der Piraten ist dabei Gradmesser für die Aufgeregtheit nicht nur der politischen Konkurrenz, sondern auch der professionellen Beobachter, die die Partei zuletzt schon in der Bedeutungslosigkeit sahen. Meine Einschätzungen dazu gab es hier, hier und hier. Und so wie es aussieht, kommt da in den nächsten Tagen noch ein bisschen ´was hinzu. An dieser Stelle möchte ich nur zwei Punkte erwähnen: mit der aktuellen Aufmerksamkeitssteigerung haben die Piraten bereits ein Kernziel erreicht – den Schritt aus der Anonymität der „Sonstigen“ hin zum distinkten Parteienprofil inklusive eigenem Umfragebalken – gerade in Bezug auf die innerparteiliche Identitätsbildung ist das keinesfalls zu unterschätzen. Der zweite Punkt betrifft die Wirkung des (projizierten) Wahlergebnisses – weniger für die Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses (und der Regierung) insgesamt oder die Folgen eines reality check im parlamentarischen Echtbetrieb – sondern vor allem für die Zukunft der Parteiorganisation. Denn wenn es den Hauptstadtpiraten tatsächlich gelingt, als erster Landesverband in ein Parlament einzuziehen, dann verbessern sich damit schlagartig auch deren Aussichten, stil- und politikprägend auf die Gesamtpartei zu wirken. Das wäre eine weitere Neuerung und ein Schauplatz für die moderne Gestaltung innerparteilicher Meinungs- und Willensbildung – an die Stelle ideologisch motivierter Flügelkämpfe tritt die regionale Performance der Parteigliederungen. Damit wäre zugleich der Ton und das Arbeitsprogramm bis zu den nächsten Wahlen gesetzt.

Bei aller Ergebnisoffenheit sind das gute Aussichten – für die Piraten ebenso wie für die Parteienforschung.

Dieser Artikel ist ein Crosspost von Internetundpolitik.wordpress.com. Wir danken Dr. Christoph Bieber für die freundliche Genehmigung.

ist Politikwissenschaftler am Zentrum für Medien und Interaktivität an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Er ist seit der Gründung im Jahr 2000 Mitglied im Vorstand von pol-di.net e.V., dem Trägerverein von politik-digital.de.


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