Internetsucht – gibt es das wirklich?

In einer neuen Studie von Phil Reed und weiteren Kollegen werden verschiedene experimentelle Nachweise erbracht, dass Internetsüchtige möglicherweise von dem, was sie auf dem Bildschirm sehen, konditioniert werden.

Ich war der erste, der bereits im Jahr 1996 eine wissenschaftliche Abhandlung zum Thema Internetsucht veröffentlicht hat. Es tut gut zu sehen, dass die Anzahl der Studien zu diesem Thema in den vergangenen 20 Jahren stetig gewachsen sind und die Krankheit aus vielen verschiedenen Perspektiven untersucht wird. Jedoch erweist es sich, unabhängig von den zunehmenden wissenschaftlichen Erkentnissen, als schwierig, jemanden tatsächlich als “süchtig” nach dem Internet zu bezeichnen.

Bei der aktuell veröffentlichten Studie handelt es sich um eine der wenigen im Bereich Internetsucht, die das Thema anhand von Experimenten untersucht, statt die Teilnehmer nur dazu zu befragen oder die Vorgänge in den Köpfen von Personen, die sehr viel Zeit online verbringen, zu messen.

Die Forschung von Reed, die im “Journal of Clinical Psychiatry” veröffentlicht wurde, bezog sich auf 100 freiwillige Erwachsene, denen der Internetzugang über einen Zeitraum von vier Stunden verweigert wurde. Das Forschungsteam forderte die Teilnehmer dann auf, an irgendeine Farbe zu denken und sie zu benennen. Die Teilnehmer erhielten danach für 15 Minuten Zugang zu ein paar von ihnen selbst gewählten Internetseiten.

Das Team beobachtete alle Internetseiten, die die Teilnehmer besuchten und forderte sie nach weiteren 15 Minuten erneut dazu auf, an eine Farbe zu denken und die erste, die ihnen einfiel, zu benennen. Die Teilnehmer wurden zudem darum gebeten, verschiedene psychometrische Fragebögen, einschließlich des “Internet Addiction Test” (IAT), auszufüllen.

Der IAT ist ein aus 20 Fragen bestehender Test, bei dem jede Frage zwischen 0 (nicht zutreffend) oder 1 (selten) bis zu 5 (immer) bewertet werden kann. Die Fragen lauten beispielsweise: “Wie oft rufen Sie zuerst Ihre E-Mails ab, bevor Sie ihre eigentlichen Aufgaben erledigen?” In vorangegangenen IAT-Studien wurden Probanden, die einen Wert von 80 oder mehr (von insgesamt 100) erreichten, mit hoher Wahrscheinlichkeit als internetabhängig eingestuft.

Diejenigen, die gemäß des IAT als “hochproblematische [Internet-] Nutzer” eingegliedert wurden, wählten mit höherer Wahrscheinlichkeit eine Farbe, die besonders häufig auf der aufgerufenen Internetseiten vorkam, die sie anwählten, nachdem sie 15 Minuten Internetentzug hatten. Dies kam bei denjenigen nicht vor, die als nicht internetsüchtig eingestuft wurden.

 

Bei Reed heisst es hier:

Die Internetsüchtigen wählten eine Farbe, die im Zusammenhang mit der zuvor besuchten Internetseiten stand. [Und das] wiederum zeigt an, dass die Eigenschaften der angesehenen Internetseiten in dem Zeitfenster ohne Internet als positiv bewertet wurden.

Er fügt hinzu:

Ähnliche Erkenntnisse wurden bei Personen entnommen, die abhängig von verschiedenen Substanzen waren. In vorangegangenen Studien wurde gezeigt, dass ein Zeichen, das im Zusammenhang mit einer Droge, die die Entzugserscheinungen lindert, als positiv gewertet wird. Obgleich dies das erste Mal ist, dass eine solche Wirkung bei einer verhaltensbezogenen Abhängigkeit wie problematischer Internetnutzung erkannt wurde.

Das Problem mit dem Begriff “Sucht”

Während sich diese Erkenntnisse als interessant erweisen, zeigen sich jedoch methodologische und konzeptionelle Defizite.

Die Anzahl der hochproblematischen Internetnutzer, denen für vier Stunden der Internetzugang vorenthalten wurde, belief sich lediglich auf zwölf Personen, sodass die Testgruppengröße sehr klein war. Die Personen, die als hochproblematische Internetnutzer eingestuft wurden, hatten IAT-Werte zwischen 40 und 72, woraufhin es sehr unwahrscheinlich ist, dass einer der Teilnehmer tatsächlich internetsüchtig war.

Auch wenn der IAT der wohl am häufigsten genutzte Test in diesem Bereich ist, ist die Verlässlichkeit und Validität doch fragwürdig. Zudem ist er bereits im Jahr 1998 entwickelt wurden und somit bereits enorm veraltet. Er verwendet außerdem nicht die in der neusten (fünften) Ausgabe des von der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung herausgegebenen Diagnostischen und Statistischen Handbuches für psychische Erkrankungen (DSM-5) empfohlenen Kriterien. Werden aber neuere Instrumente, wie die unserer “Internet Disorder Scale” (dt.: Massstab zu Interneterkrankungen) anstelle des IAT benutzt, könnten möglicherweise einige dieser Probleme überwunden werden. Dies kann geschehen, da die Kriterien, die eine Internetsucht beschreiben, auch denen der neun Codes der DSM-5 Ausgabe entsprechen.

Es gibt zudem noch viele weitere Probleme bei der Nutzung des Begriffs “Internetsucht”: Auch wenn die Anzahl der Studien zum Thema Internetsucht mit Sicherheit angestiegen ist, haben die meisten sich doch eher mit Süchten, die im Internet stattfinden als mit der Internetsucht selbst beschäftigt. Beispielsweise handelt es sich bei Personen, die süchtig nach Online-Minispielen, Online-Glücksspiel oder Online-Shopping sind, nicht um Menschen, die internetsüchtig sind. Sie sind Glücksspielsüchtige, Spielsüchtige oder Kaufsüchtige, die nur das Medium Internet zur Ausübung ihrer Sucht benutzen.

Es gibt natürlich einige Aktivitäten – wie die Nutzung sozialer Netzwerke – die als eine einzigartige Art von Internetsucht bezeichnet werden könnten, da diese Aktivitäten nur online stattfinden. Diese Sucht bezieht sich jedoch eher auf eine Anwendung als auf das Internet selbst und sollte daher nicht als Internetabhängigkeit, sondern als Abhängigkeit zu sozialen Netzwerken bezeichnet werden.

Kurz gesagt, die überwiegende Mehrheit der sogenannten Internetsüchtigen sind ebenso wenig süchtig nach dem Internet, wie ein Alkoholiker nach der einen Flasche Alkohols süchtig ist, die er gerade in der Hand hält.

Dieser Artikel erschien zuerst auf “The Conversation” unter CC BY-ND 4.0. Übersetzung mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.


Image (adapted)  “Addicted to the Internet” by Michael Mandiberg (CC BY-SA 2.0)


The Conversation

ist Leiter der Internationalen Spielsucht Forschungsstelle und arbeitet als Dozent für Abhängigkeitsverhalten an der Nottingham Trent Universität.


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