Barrierefreiheit beschäftigt Menschen ohne Behinderung nicht. Das sollte sich aber ändern, meint Jan Hellbusch, der selbst betroffen ist.
Jan Hellbusch ist Accessibility-Consultant und berät Organisationen darin, ihre Webauftritte barrierefrei umzusetzen. Daneben hat er noch weitere Dienstleistungen im Programm, etwa Schulungen für Entwickler oder Online-Redakteure. Da er selbst erblindet ist spricht er aus eigener Erfahrung. Passend zum Europäischen Protesttag der Menschen mit Behinderungen ein Gespräch über Barrierefreiheit im Netz, Blindheit und seine eigenen Erfahrungen damit.
Anna Maria Landgraf: Wie sind Sie zu dem Beruf Accessibility-Consultant gekommen?
Jan Hellbusch: Zu dieser Arbeit bin ich mehr oder weniger zufällig gekommen. Seit meiner Jugend weiß ich, dass ich eine progressiv verlaufende Sehbehinderung habe. Die Erkrankung heißt Retinitis pigmentosa und kennzeichnet sich zunächst durch Nachtblindheit und zunehmende Gesichtsfeldausfälle aus. Bereits in der Schule und in meinem Studium der Betriebswirtschaftslehre bemerkte ich die Einschränkungen, aber wie so viele Sehbehinderte kam ich halbwegs klar.
Nach einigen Jahren im Berufsleben wechselte ich in die Öffentlichkeitsarbeit bei einer Organisation für Entwicklungszusammenarbeit. Einer meiner Aufgaben war es, mich um die Barrierefreiheit des Webauftritts zu kümmern. Gleichzeitig beschäftigte ich mich mit der Optimierung meiner eigenen Arbeitsweisen am Rechner. Eine Veröffentlichung, die besonders hilfreich war, wollte ich für eine Zeitschrift rezensieren, und ich rief den Herausgeber an, um etwas mehr über den Verlag zu erfahren. In diesem Gespräch merkte ich eher scherzhaft an, dass sie nichts über barrierefreies Webdesign im Portfolio hätten und er schlug vor, dass ich was dazu schreibe.
Einige Monate später rief der Herausgeber bei mir an und fragte, wie weit ich gekommen sei. Ehrlich gesagt, ich hatte das ganz vergessen, aber dieses Gespräch führte letzten Endes zum KnowWare-Heft „Barrierefreies Webdesign„. Im nächsten Jahr wurde mir ein Job in einem Projekt zu barrierefreiem Webdesign angeboten und in 2005 habe ich mich als Accessibility-Consultant selbstständig gemacht.
AML: Welche Anbieter kommen zu Ihnen, um etwas über Barrierefreiheit zu lernen?
JH: Zu mir kommen diejenigen, die barrierefreies Webdesign nach der in Deutschland geltende Barrierefreie-Informationstechnik-Verordnung (BITV) umsetzen müssen. Es sind Behörden und behördenähnliche Organisationen oder Agenturen, die in ihrem Auftrag arbeiten. Es sind Kommunen und Bundesministerien, aber auch öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten, Verlage und Museen. Eher selten kommen Unternehmen aus der Wirtschaft mit einem Anliegen, aber sie gibt es selbstverständlich auch.
AML: Was muss ein Webangebot genau erfüllen, um blindenfreundlich zu sein?
JH: Wenn es um die Zugänglichkeit und Nutzbarkeit für Blinde geht, so sind Struktur im HTML, die Bedienbarkeit per Tastatur und die textliche Beschreibung von Bildern ein guter Startpunkt. Wie so vieles andere auch steckt der Teufel im Detail. Strukturen sind nicht immer gleich gut, Blinde nutzen eine Software zum Lesen der Bildschirminhalte, der sogenannte Screenreader, die ganz eigene Bedienkonzepte mit sich bringen, und die Formulierung von guten Beschreibungen für Bilder ist eine Kunst für sich.
Unterm Strich müssen Informationen und Funktionen genauso im Screenreader verfügbar gemacht werden, wie sonst am Bildschirm. Dazu müssen sich Entwickler und Redakteure ein Bild von der Arbeitsweise von Screenreadern machen. Allerdings darf bei der Barrierefreiheit nicht vergessen werden, dass es um wesentlich mehr als „blindenfreundlich“ geht. Sehbehinderung, Gehörlosigkeit, Lernbehinderung oder motorische Einschränkungen bringen sehr unterschiedliche Anforderungen an die Barrierefreiheit mit sich.
AML: Wie sieht die Situation momentan im Internet aus? Sind viele Seiten blindenfreundlich oder gibt es da noch großen Bedarf?
JH: Das Web verändert sich ständig. Mit jeder technischen Weiterentwicklung bei der Webgestaltung gibt es neue Herausforderungen der Barrierefreiheit. Einige Aspekte wie z.B. Strukturen im Code haben sich über die Jahre deutlich verbessert. Das gilt auch für die Möglichkeit beispielsweise eine Untertitelung von Videos für Gehörlose einzubinden. Aber es gibt immer noch viele Barrieren, es sind nur andere als vor 10 Jahren, denn heute ist das Web deutlich dynamischer und multimedialer.
Ein häufiges Problem bei der Gestaltung von dynamischen Komponenten ist die fehlende Tastaturbedienbarkeit. Überhaupt sind viele dynamische Komponenten aus verschiedenen Blickwinkeln eher „schlampig“ programmiert und unter diversen Gesichtspunkten nicht gut nutzbar. Ein anderes großes Problem ist der Verlust von Informationen im Kontrastmodus. Natürlich besitzen die meisten Bilder im Web keine geeigneten Alternativtexte. Und so kann ich diese Liste beliebig fortführen, denn die meisten Webseiten sind nicht barrierefrei.
Auch wenn es immer noch viel zu tun gibt, darf nicht verschwiegen werden, dass es positive Entwicklungen gibt. Natürlich gibt es immer wieder vorbildlich barrierefreie Webauftritte. Der neue HTML5-Standard ist vollgespickt mit Barrierefreiheit ebenso wie der nicht ganz so neue PDF-Standard der ISO. Schließlich legen heute gängige Redaktionssysteme und Editoren und letztlich auch die Menschen, die Websites erstellen, wesentlich mehr Wert auf barrierefreie Webseiten.
AML: Barrierefreiheit ist ein ständiger Prozess. Was kann ein Webanbieter tun, um auf den aktuellen Stand zu bleiben?
JH: Es gibt im Wesentlichen zwei Aspekte, die Webanbieter beachten sollten. Zum einen sollten aktuelle Webstandards des W3C so eingesetzt werden, wie sie spezifiziert sind. In jedem Fall zählen die Kriterien in den Web Content Accessibility Guidelines 2.0 zu diesen Webstandards. Zum anderen sollten Nutzer oder auch Experten befragt werden: Es kommen immer wieder neue Webstandards raus, ob für das mobile Web, Multimedia oder Komponenten und es ist nicht einfach, die Barrierefreiheit einschätzen zu können.
AML: Wie waren Ihre ersten Erfahrungen als sehbehinderter Mensch mit dem Internet? Hat sich da im Laufe der Zeit viel entwickelt?
JH: Es hat sich wahnsinnig viel entwickelt. Immerhin, es sind schon über 20 Jahre. Für Sehbehinderte hat sich allerdings nicht ganz so viel entwickelt – im Vergleich zu Blinden. Als ich meine ersten Ausflüge ins Web machte, war das Web noch recht einfach. Die meisten Webseiten bestanden aus Text, Grafiken und einfachen Navigationsleisten, aber aufwendige Gestaltung und Dynamik waren erst im Entstehen. Da ich aufgrund meiner Sehbehinderung blendempfindlich war, hatte ich den Kontrastmodus von Windows 95 aktiviert, d.h. in allen Anwendungen (auch im Browser) wurden Texte weiß und Hintergründe schwarz dargestellt. Für Textseiten ist das kein Problem.
Den Kontrastmodus gibt es nach wie vor und heute werden Webseiten oft so gestaltet, dass sie mit dieser Einstellung nicht oder nur schwierig bedienbar werden. Die Ränder von Formularfeldern werden als Hintergrundgrafiken gestaltet und verschwinden im Kontrastmodus. Solche Beispiele gibt es leider sehr viele und ich beobachte schon regelrechten Frust bei Sehbehinderten, die z.B. eine Suchfunktion nicht sehen können, weil es auf dem Bildschirm unsichtbar ist.
Mittlerweile unterstützen aber alle Browser ein Seitenzoom. Außerdem gibt es unendlich viele „kleine Helferlein“ als Plug-In oder als Zusatzsoftware. Sehbehinderte können auf Desktop-Rechnern einen Vergrößerungsbedarf durch größere Bildschirme kompensieren und mobile Geräte besitzen ebenfalls Vergrößerungsfunktionen. Dieser Aspekt hat sich für Sehbehinderte stetig verbessert.
Ein großes Problem werden Sehbehinderte wahrscheinlich immer haben: Auf vielen Webseiten ist der Kontrast nicht ausreichend. Das ist eigentlich ein allgemeines Problem, denn nicht selten betrifft das „Normalsichtige“ auch, wenn sie mit Smartphones versuchen, eine App im Sonnenschein zu bedienen.
AML: Wie hat sich Ihre Nutzung geändert, als Sie schließlich vollkommen erblindet sind?
JH: Der Übergang von sehbehindert zu blind war bei mir fließend und dauert ungefähr sechs Jahre. Als ich 2002 einen neuen Job antrat, hatte mein Arbeitgeber empfohlen, sicherheitshalber auch einen Screenreader zu installieren. Ich besorgte die Software, aber das Lesen von Inhalten war anfangs schon recht müßig. Dennoch probierte ich es immer wieder aus.
Ich erinnere mich, dass ich mir im Jahr 2004 die Bedienung des Screenreaders vorgenommen hatte und jeden Tag eine neue Tastenkombination lernen wollte. Regelmäßig erhöhte ich auch die Sprechgeschwindigkeit der Sprachausgabe ein wenig. Als ich in einem Buchprojekt sehr viele Texte zu lesen hatte, tat ich das anfangs noch am Bildschirm. Der Screenreader lief manchmal parallel mit und eines Tages stellte ich fest, dass die Software schneller las als ich. Das war der Turning-Point.
Die Umstellung auf einen Screenreader bedeutet zweierlei. Zunächst muss das Gehör sich an die mechanische Stimme einer Sprachausgabe gewöhnen. Sie kann mitunter monoton und anstrengend sein. Die richtige Fleißaufgabe kommt aber mit der Erlernung der Tastaturbefehle, die in einem Screenreader nicht selten auch das gleichzeitige Drücken von drei Tasten bedeutet. Darüber hinaus muss ich mir vorstellen können, wie Inhalte aufgebaut sind, um darin effizient navigieren zu können. Der größte Unterschied zwischen Sehen und Nicht-Sehen beim Lesen ist nämlich, dass es für Nicht-Sehende keinen Überblick über den Inhalt und kein Scannen von Text nach bestimmten Merkmalen mehr gibt.
AML: Wie funktioniert die Nutzung von Social-Media-Kanälen? Facebook, Twitter & Co. aktualisieren sich nahezu im Sekundentakt.
JH: Wenn es keinen Desktop-Zugang gibt, tue ich mir das nicht an. Für Twitter nutze ich ein Plug-In für Outlook. Auf Facebook verzichte ich.
Damit will ich nicht sagen, dass die Webseiten alle nicht barrierefrei sind – auch die Seite von Twitter kann ich bedienen. Es ist aber anstrengend, wenn sich immer etwas ändert und wenn es sehr viele Informationshäppchen gibt. Die Social-Media-Anbieter bemühen sich schon, eine gewisse Grundbarrierefreiheit zu berücksichtigen, aber gerade bei den Social-Media-Angeboten mit den komplexen und kleinteiligen Inhalten ist ein Maximum an Barrierefreiheit erforderlich. Das bedeutet beispielsweise, dass ARIA-Techniken konsequent eingesetzt werden müssten. Dieser Anspruch gilt übrigens für alle komplexen Seiten, sei es Amazon oder die Seiten des WDR – freilich sind die Seiten des WDR in Sachen Barrierefreiheit sehr fortgeschritten.
AML: Was muss Ihrer Meinung nach noch verbessert werden, damit blinde und sehbehinderte Menschen das Internet noch besser nutzen können?
JH: Letztlich müssen die Menschen, die Inhalte und Technik für das Web bereitstellen, sich mit Barrierefreiheit beschäftigen. Redaktionssysteme und andere Tools können die Arbeit nur zu einem kleinen Teil abnehmen. Anders herum gesagt: Wenn ich Webseiten auf Barrierefreiheit teste, so geht nichts automatisch. Es ist immer die Bewertung von Fachleuten erforderlich. Was also passieren muss, damit Webseiten barrierefreier werden, ist eine kontinuierliche Beschäftigung mit dem Thema. Die Barrierefreiheit muss in der Ausbildung und in der Fachliteratur verankert werden. Es muss in Ausschreibungen für Webauftritte deutlich gemacht werden, dass nur barrierefreie Ergebnisse abgenommen werden. Es muss letzten Endes auch selbstverständlich werden, dass der Mensch (mit und ohne Behinderung) die Webseite sinnvoll nutzen will. Barrierefreiheit ist ein Qualitätsmerkmal, ein ISO-Standard und sie ist beim W3C ausführlichst dokumentiert, womit ich sagen will, dass die erforderlichen Ressourcen bereits vorliegen.
Woran es fehlt, ist Engagement und Öffentlichkeit. Es gibt in Deutschland mittlerweile nur wenige Konferenzen zum Thema. Die deutschsprachige Fachliteratur, die sich eingehender mit Barrierefreiheit beschäftigt, ist durchaus überschaubar. Weil das Thema meist nicht im Fokus steht, wird sie gerne auch vernachlässigt.
Es besteht eine Chance, dass das Thema mehr Schwung bekommt. Zurzeit wird die Novellierung des Behindertengleichstellungsgesetzes verhandelt. Ein grundlegendes Problem des Gesetzes ist, dass es nur für die Behörden, aber nicht für die Privatwirtschaft gilt. Die Bundesregierung hat zwar bislang nicht signalisiert, dass sie die Privatwirtschaft zur Barrierefreiheit verpflichten will, aber der Deutsche Behindertenrat hat in seinem Forderungskatalog vom 3. Dezember 2014 unmissverständlich formuliert, dass die Privatwirtschaft eine Verantwortung für Barrierefreiheit hat. Ich kann mir vorstellen, wenn die großen Unternehmen Barrierefreiheit umsetzen, dass dann viele andere nachziehen werden.
Ich würde es sehr begrüßen, wenn die Unternehmen aus der Privatwirtschaft, die im allgemeinen Interesse der Öffentlichkeit stehen, sich barrierefrei online präsentieren. Für mich persönlich ist es zumindest wesentlich interessanter, wenn die Seiten einer Online-Zeitschrift oder eines Sportvereins barrierefrei sind, als die Seiten eines Bundesministeriums.
AML: Vielen Dank für das Interview.
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Schlagwörter: barrierefreiheit, behinderung, Gleichberechtigung, Internet, Interview, Jan Hellbusch, Netzkultur, sehbehinderung
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