Schnappschuss-Journalismus: Essays bei Instagram

Eignet sich die Foto- und Videoplattform nur für visuelle Petitessen oder Häppchen-Journalismus? Nein, Jeff Sharlet nutzt Instagram für Sozialreportagen. Jeff Sharlet ist eigentlich ein Mann des Wortes: Im Stil des literarischen Journalismus schreibt er Bücher sowie Reportagen in Magazinen und unterrichtet “creative nonfiction” am Dartmouth College. Doch er hat Instagram für sich entdeckt und porträtiert dort Personen in Wort und Bild. Häufig handelt es sich dabei um kurze Serien, die an anderer Stelle auch wieder zu längeren Essays zusammengefügt werden. Das von ihm praktizierte Format kontrastiert das Image von Instagram als geistlosem Forum für Celebrities, Food Aficionados und die Generation #Selfie.

 

Im März 2015 hat Laura Ewert in “Die Welt” unter der Überschrift “Instagram macht uns alle zu Psychopathen” für ein Bilderverbot plädiert. Ihr Text resümiert die geläufige Kritik an dem, was und wie die Nutzer so auf der Plattform posten: “Welche Bildsprache sich mit der Instagrammisierung des Alltags durchgesetzt hat, sieht man an den ewig gleichen Posen, den sich ähnelnden Food-Bildern (…), auch an den sich erschreckend gleichenden Wohnungseinrichtungen.” Kritisch enthüllt Ewert die Mechanismen des Online-Marketings in sozialen Medien und spitzt “meinungsstark” (wie man im Jargon des Feuilletons gerne sagt) zu: “es ist die schädlichste, die böseste und die kaputteste App, denn sie macht süchtig nach einer Lightversion des Stalkings.” Der Aufhänger ihres Beitrags ist übrigens eine Episode über eine des Voyeurismus verdächtige Vogue-Redakteurin, die in Paris während der Modewoche eine obdachlose Frau fotografierte, die in einer Vogue las.

Visuelle Demokratie

Jeff Sharlet würde sich vermutlich an beidem nicht stören: Die Allgegenwart des Gewöhnlichen wie der provokative Schnappschuss sind für ihn zwei Seiten der selben Medaille, die Instagram als soziales Medium auszeichnen. In einer Art Manifest, das er im Anschluss an sein Projekt „#Nightshift“ formuliert, eruiert er das Potenzial der kommerziellen Plattform als Forum einer „visuellen Demokratie“:

Instagram is – or almost is, maybe could be – a kind of visual democracy, one in which the individual voice is honored even as it flows into greater patterns, contributes to a larger idea. (…) Of course, Instagram is also a corporation, one with greater control over the images it distributes than most users realize. As a forum, it’s ‘democratic’ only to the same degree that Amazon ‘democratizes’ writing by making self-published books easily available.

Die visuelle Demokratisierung, die Sharlet selbst vorantreibt, bezieht sich jedoch nicht nur darauf, dass jeder nun seine vormals privaten Schnappschüsse auf einer Plattform veröffentlichen kann, sondern darauf, dass auch jeder zum Sujet dieser Form von Foto-Journalismus avancieren kann: Sharlet nutzt das Medium um Personen zu porträtieren, über deren Leben in den Massenmedien selten berichtet wird. Seine Schnappschüsse sind Ausgangspunkte für Texte, die für die Verhältnisse von Instagram zwar lang, aber für eine Sozialreportage eher kurz sind. Dieses vermeintliche Manko der Miniaturen kompensiert er häufig durch Serien seiner Schnappschüsse: Sei es zu einem Thema (z.B. #Nightshift) oder zu einer Person (z.B. “A Resourceful Women”). In renommierten (Online-) Magazinen veröffentlicht, werden aus den einzelnen Beobachtungen dann auch längere Essays.

Unsichtbare repräsentieren

Sharlets Projekte demonstrierten gerade zuletzt den Anspruch, Realitäten zu repräsentieren, die in der massenmedial verfassten Öffentlichkeit marginalisiert werden: In mehreren Serien geht es um Skid Row, einen Bezirk in Los Angeles, in dem besonders viele Obdachlose präsent sind, von denen einer bei einem Polizeieinsatz getötet wurde. Seine große Reportage dazu trägt in Anlehnung an Ralph Ellisons Roman zur afro-amerikanischen Identitätssuche einerseits und einem weiterhin aktuellen Hashtag andererseits den Titel: “The Invisible Man: The End of A Black Life That Mattered”. Die Fotografien, die er während der Recherchen dazu bei Instagram veröffentlichte, ergeben in ihrer Gesamtheit ein “kollektives Porträt” der Menschen in dieser Gegend (siehe einen weiteren daraus resultierenden GQ-Artikel). Sie dokumentieren auch die ästhetische Vielfältigkeit der Vorgehensweise des Autors, der sich fotografisch als Amateur versteht: So gelingt es ihm etwa selbst vermisste Personen zu porträtieren, indem er die Flyer fotografiert, mit denen nach ihnen gesucht wird.

Skid Row, The Missing, #1. You tape your fliers to the mission walls, tack one up at the station, wrap them around street light poles. You walk down Sixth Street to pass them out but at first you’re afraid so you go to the little half-block parks, Gladys and San Julian, even though the policeman told you the parks were for dealers. You go because the parks are what you know, and the men they say are dealers don’t look as crazy, and you say „Pardon me.“ You are pardoned. Men take your fliers. Some glance and say „naw“ and some study and say they will look for that face, they’ll remember that face, if they see her they’ll call. You think they’ll ask for money but they don’t. That’s one of the things that puzzles you. Almost nobody asks for money. Why not? You don’t know. It’s not like the policeman told you it would be and that makes you glad. Because he said gangs, he said rape, he said beatings and bats and knives. Instead it’s earnest. It’s earnest here. But they don’t ask for money. So what do they do? What will she do? You don’t understand. You’re running out of fliers. You have to go now. You have to copy more. #skidrow_themissing #homeless #skidrow #lost #losangeles #california #street #streetphoto #documentary #journalism #portraits #missing

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Image „London Eye“ by pixolga (CC0 Public Domain)


ist Politikwissenschaftler und zu seinen Schwerpunkten zählen Erinnerungskultur 2.0, Netzpolitik und politische Online-Kommunikation. Mitglied des Netzpiloten Blogger Networks.


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