Vor allem nach den Umstürzen in der arabischen Welt und dem schweren Erdbeben in Japan hat sich die Haltung vieler Redakteure zu Social Media als Nachrichtenquelle geändert. Das Naserümpfen über Twitter und Facebook ist weniger geworden. Stattdessen fragen Kollegen, die einst am lautesten über das Internet schimpften, jetzt leicht verlegen an, wie man denn am besten in der “Onlinewelt” loslegen kann. Inzwischen ist vielen Journalisten klar geworden, dass sie gegenüber den neuen Entwicklungen eine Haltung einnehmen sollten, bei der sie sich nicht von der Frage leiten lassen, ob ihnen etwas gefällt oder nicht. Es geht vielmehr um Relevanz und um die Frage, inwiefern die Möglichkeiten des Internet den Journalismus besser machen können. Dieser Text richtet sich vor allem an jene, die einen Überblick darüber suchen, inwiefern das Internet denn nun konkret den Arbeitsalltag von Journalisten beeinflusst hat.
Die Rahmenbedingungen, in denen sich Journalismus abspielt, haben sich verändert:
Diese Entwicklung verlangen Journalisten eine neue Denke ab. Hier sieben Empfehlungen:
1) Baue Dir deine personalisierte Nachrichtenagentur auf
Du suchst relevante Stimmen nicht nur in den klassischen Kanälen. Breaking News kommen nicht mehr zwangsläufig über den Ticker der Nachrichtenagenturen oder von klassischen Medienmarken. Twitter, Facebook und Blogs können interessante, alternative Nachrichtenquellen sein. Sie sind so seriös und unseriös wie jede andere Quelle auch, d.h. sie müssen verifiziert werden. Deshalb lohnt es sich, sich einen Social Circle seines Vertrauens aufzubauen. Wie effizient man das machen kann, hat der NPR-Journalist Andy Carvin in der Berichterstattung über die Umstürze in Nordafrika bewiesen. Die sozialen Netzwerke sind voll mit Experten zu allen möglichen Themen.
2) Du suchst den Dialog auf Augenhöhe mit den Nutzern
Nach wie vor fällt es vielen Journalisten schwer, Selbstkritik zu üben. Hier wäre ein wenig mehr Demut und Kritikfähigkeit gefragt. Davon kann ein Journalist nur profitieren. Denn das Nutzerfeedback gibt oft interessante Anstöße, um neue Themen zu finden oder auch Lücken in der Recherche zu entdecken. Der Austausch mit dem Publikum hilft auch, die Bindung an das eigene Medium zu erhöhen.
3) Du nutzt die Weisheit deiner Leser
Über die Leser der New York Times hat Jay Rosen einmal gesagt: „The most valuable thing the New York Times owns is its name and reputation. The second most valuable thing it has: the talent and experience of its staff. The third most valuable thing the Times “owns” is the knowledge and sophistication of its users.“ Unter den Nutzern befinden sich Experten aller Coleur: Anwälte, Ärzte, Lehrer, Unternehmer. Sie verfügen häufig über Fachwissen, das das der Journalisten weit übersteigt. Andererseits sind die Nutzer häufig da, wo der Journalist gerade nicht sein kann. Zapfe also das Wissen deiner Leser an. Betreibe Crowdsourcing. Wie gut das funktionieren kann hat der Guardian bewiesen. Ein eindrucksvolles Beispiel lieferte die britische Tageszeitung, als sie Hunderttausende Spesenabrechnungen britischer Abgeordneter von seinen Lesern prüfen ließ.
4) Du machst deinen Arbeitsprozess transparent
David Weinberger hat dargelegt, warum das Konzept der Objektivität im Zeitalter des Internet überkommen ist. Er kommt zu dem Schluss: Transparency ist the new objectivity. Vertrauen schaffen Journalisten in der verlinkten Welt von heute nicht mehr allein, indem sie schlicht behaupten, dass eine Information richtig ist. Sie schaffen es vielmehr, indem sie offenlegen, warum sie zu einer bestimmten Position gelangt sind. Dazu gehört es auch, soweit möglich, relevante Quellen zu verlinken.
5) Du kuratierst Information und managest den Information-Overload durch eine kritische Nutzung von Filtern (Suchmaschinen, Social Media, News Aggregatoren)
Der Journalist von heute muss in der Lage sein, den gewaltigen Informationsstrom zu bändigen. Das Kuratieren ist ja gerade das, was professioneller Journalismus heute leisten muss. Vertrauensvolle, relevante Information herauszufiltern. Dazu gehört das Bewusstein, dass die Filter durch die automatisierte Auswahlverfahren zu verzerrten Ergebnissen führen können. Hier sei eine Auseinandersetzung mit Eli Parisers Theorie der “Filter Bubble” empfohlen.
6) Du begreifst Journalismus als Prozess
Das Internet kennt keinen Redaktionsschluss. Process Journalismus geht im Gegensatz zum Produktjournalismus davon aus, dass Geschichten kein eindeutiges Ende haben. Der Chefredakteur des Guardian Alan Rusbridger hat das ganz gut auf den Punkt gebracht. “A reporter may choose not to write a story at all, but to blog it. A blog need not “report” a story in the conventional way: It can link to other reports and to source materials. Within minutes of publication most stories will be subject to challenge or addition or clarification or correction. How we react to, or incorporate, that challenge is of basic concern. A “story,” thus told, may have no obvious natural finishing point. The resulting piece of journalism is more fluid than its predecessors. It more closely resembles the real world, which is rarely about neatly cut and dried events with only one narrative version and a finite ending.”
Journalismus wird hier als Work in Progress verstanden, in dem schon früh die Nutzer mit einbezogen werden. Deshalb muss bloggen oder twittern auch kein Zeitfresser sein. Im Gegenteil: ein Blog ist ja oft nichts anderes, als ein öffentlicher Notizblog, der dem Reporter hilft, sein Wissen zu mehren und seine Kompetenz zu stärken sowie sich von Nutzern Anregungen zu holen.
7) Du betreibst Storytelling auf mehreren Kanälen
Das Radio lebt, das TV auch und die Zeitung ist nicht tot. Das Internet bedeutet nicht das Ende der klassischen Medienformen. Es erweitert aber die Möglichkeiten, wie ich Geschichten erzähle. Wem daran liegt, seine Stories unters Publikum zu bringen, der wird diese Möglichkeiten nutzen. Man sollte sich fragen, auf welchen Kanäle man wie seine Story erzählen soll. Macht es Sinn, bereits einen Rechercheblog zu starten, lohnt sich die Einbindung der Nutzer über Social Media und wie präsentiere ich meine Geschichte letztendlich im Internet. Dabei sollte die visuelle Aufarbeitung der Story eine prioritäre Rolle spielen. Internet ist vor allem ein Medium fürs Auge. Das heißt keineswegs, dass wir nun immer Videos machen. Doch das visuelle Denken fängt schon beim Texten an: Es muss ja nicht immer der „lange Riemen“ sein. Warum nicht einmal ein Pro-Kontra- oder ein Frage-Antwort-Text, eine Chronologie, etc.. Wie man die Kraft der Fotografie nutzt zeigt beispielsweise das inzwischen viel kopierte Format des Bosten Globe Big Picture. Immer größer wird das Thema der Visualisierung von Datensätzen. Hier entstehen neue Berufsfelder in der Programmierer und Journalisten sich an einen Tisch setzen. Das Internet bietet Journalisten Freiräume für Kreativität. Deshalb sollte man sich bei jeder Geschichte die Frage neu stellen: Gibt es noch eine bessere, visuelle Idee die Geschichte zu erzählen.
Autor: Steffen Leidel ist DW-World.de-Experte für Bolivien, Kolumbien, Venezuela und Peru mit den Schwerpunktthemen Entwicklungspolitik, Armutsbekämpfung, Drogenpolitik sowie Erdölwirtschaft und Energiepolitik. Außerdem ist er Experte für Europa in Sachen Migration (speziell Spanien).
Er betreibt zusammen mit Marcus Bösch den Gemeinschaftsblog „lab“ von wo aus wir diesen Crosspost mit freundlicher Genehmigung Steffen Leidels veröffentlichen durften.
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Schlagwörter: journalismus, Online-Journalismus, steffen leidel
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