Hilfe bei Katastrophen: Netzwerke sind wichtiger als abgefülltes Wasser und Batterien

Wenn es um der Katastrophenvorsorge geht, konzentrieren sich die meisten Verhaltenshinweise auf den Bau von Schutzräumen und die Versorgung mit Dingen wie Nahrungsmitteln, Wasser und Batterien. Doch Resilienz – die Fähigkeit, sich von Schocks, einschließlich Naturkatastrophen, zu erholen – geht aus unserer Bindung zu anderen hervor und nicht aus materieller Infrastruktur oder Notfallpaketen.

Vor beinahe sechs Jahren sah sich Japan mit einer lähmenden dreifachen Katastrophe konfrontiert: einem enormen Erdbeben, einem Tsunami und einer atomaren Kernschmelze, weswegen 470.000 Menschen aus mehr als 80 Gemeinden, Dörfern und Städten evakuiert werden mussten. Meine Kollegen und ich untersuchten, wie Gemeinden in den am schlimmsten betroffenen Gebieten auf diese Schocks reagierten und fanden heraus, dass soziale Netzwerke – die horizontalen und vertikalen Vernetzungen, die uns mit anderen verbinden – unsere wichtigste Verteidigung gegen Katastrophen darstellen.

Die Katastrophe von 2011

Am Freitag, den 11. März 2011 um 14:46 Uhr traf ein gewaltiges Erdbeben der Stärke 9.0 die Nordostküste Japans. Das Beben war stärker und hielt länger an als Hunderte Beben, die das Land jährlich erschüttern, verursachte aber weniger Schaden an Wohnhäusern und Betrieben. Unglücklicherweise war die Gefahr jedoch noch lange nicht vorüber.

Innerhalb von 40 Minuten zertrümmerten enorme Wellen, teilweise von der Höhe eines sechsstöckigen Gebäudes, küstennahe Gemeinden in der Region Tohoku im Nordosten Japans. Rund 18.500 Menschen verloren ihr Leben, vorwiegend durch den Tsunami.

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Der Schaden, den das Erdbeben und der Tsunami verursacht hatten, führte zu einem Zusammenbruch des Kühlsystems in den Reaktorblöcken 1 bis 3 des Atomkraftwerks Fukushima Daiichi, was mehrere Kernschmelzen zur Folge hatte. Mehr als 160.000 Menschen aus dem Bezirk Fukushima mussten evakuiert werden. Die strahlungsbedingte Sperrzone umfasste ursprünglich mehr als 8.600 Quadratkilometer, wurde aber aufgrund voranschreitender Dekontaminierungsmaßnahmen verkleinert.

Insgesamt wurden mehr als 470.000 Menschen während der Katastrophe evakuiert. Das Reaktorunglück lähmte die nationale Politik, verunsicherte und belastete viele Überlebende und veränderte die energiepolitische Landschaft in Japan, indem Anwohner dazu gedrängt wurden, alternative Energiequellen zu nutzen. Viele Gemeinden gründeten Energiegenossenschaften, die Erdwärme sowie Sonnen- und Windenergie für ihre Stromproduktion nutzen.

Wodurch wurden während des Tsunamis Leben gerettet?

Ein japanischer Kollege und ich hofften, etwas darüber zu erfahren, warum sich die Sterblichkeitsrate als Folge des Tsunamis regional so stark unterschied. In einigen Städten entlang der Küste wurde niemand von den Wellen, die bis zu 18 Meter erreichten, getötet; in anderen verloren bis zu 10 Prozent der Bevölkerung ihr Leben. Wir untersuchten mehr als 130 Städte, Gemeinden und Dörfer in Tohoku und betrachteten Faktoren wie die ungeschützte Lage zum Ozean hin, die Höhe von Dämmen sowie die des Tsunamis, Abstimmungsmuster, Demographien und soziales Kapital. Nachdem wir all diese Störfaktoren geprüft hatten, fanden wir heraus, dass Bezirke mit mehr gegenseitigem Vertrauen und einem höheren Interaktionslevel geringere Sterblichkeitsraten zu verzeichnen hatten.

Die Art der sozialen Bindung, die hier von Bedeutung war, war die horizontale, die zwischen den Anwohnern. Dies war eine überraschende Erkenntnis in Anbetracht dessen, dass Japan eine enorme Geldmenge für materielle Infrastruktur wie Dämme ausgegeben, aber sehr wenig in den Aufbau sozialer Bindungen und Zusammenhalt investiert hat.

Aufgrund von Interviews mit Überlebenden und einer Überprüfung der Daten glauben wir, dass Gemeinden mit stärkerer Bindung, Interaktion und gemeinsamen Normen effektiver arbeiteten, um Freunden, Familie und Nachbarn Hilfe zu leisten. Vielerorts vergingen zwischen dem Erdbeben und dem Auftreffen der Tsunamiwelle nur 40 Minuten. Währenddessen sammelten viele Anwohner wortwörtlich ältere Menschen ein und brachten sie aus gefährdeten, tiefliegenden Gebieten hinaus. In miteinander sehr vertrauten Nachbarschaften klopften Menschen an die Türen von denen, die Hilfe benötigten, und brachten sie in Sicherheit.

Was hat den Städten geholfen, wieder auf die Beine zu kommen?

In einer anderen Studie wollte ich herausfinden, warum rund 40 Städte, Gemeinden und Dörfer in der Tohoku-Region über einen Zeitraum von zwei Jahren in sehr unterschiedlichem Maße wiederaufgebaut wurden, Kinder wieder zur Schule gingen und Betriebe wiederaufgenommen wurden. Zwei Jahre nach der Katastrophe wirken einige Gemeinden, als wäre in der Zwischenzeit keine Hilfsmaßnahmen vonstatten gegangen. Die Hälfte ihrer Versorgungsleistungen, Betriebe und saubere Straßen mussten wieder hergestellt werden. Andere Städte haben es in der gleichen Zeit geschafft, sich komplett zu erholen, Evakuierte in vorübergehenden Wohnungen unterzubringen, Gas- und Wasserleitungen wiederherzustellen und Trümmer wegzuräumen.

Um zu verstehen, warum einige Städte sich schwertaten, schaute ich mir Erklärungen zur Auswirkung der Katastrophe, der Größe der Stadt, der finanziellen Unabhängigkeit sowie zu horizontalen Bindungen von Stadt zu Stadt und vertikalen Bindungen von der Gemeinde zu Machthabern in Tokio an. In der Erholungsphase war eine vertikale Vernetzung das beste Anzeichen für einen starken Aufschwung.

Gemeinden, die in den Jahren vor der Katastrophe mehr einflussreiche Vertreter auf Führungsebene nach Tokio entsandt hatten, hatten am meisten erreicht. Die Politiker und lokale Botschafter unterstützten den Druck auf die Bürokratie, Hilfe zu leisten, ausländische Regierungen zur Mithilfe zu bewegen und die komplexe Zoneneinteilung sowie bürokratische Hürden zu vereinfachen.

Während es für die Gemeinden schwierig ist, einfach festzulegen, dass sie mehr Vertreter auf Führungsebene in Tokio etablieren wollen, können sie auch die Initiative ergreifen und Verbindung mit Entscheidungsträgern aufnehmen. Darüber hinaus können sie versuchen, sicherzustellen, dass sie mit vereinten Kräften die Bedürfnisse und Vorstellungen der Gemeinde kommunizieren.

Soziale Bindungen, nicht bloß Sandsäcke

Die Tohoku-Katastrophen bekräftigen frühere Belege zur weltweiten Bedeutung sozialer Netzwerke und sozialen Kapitals bei der Erholung nach Katastrophen. Obwohl der Klimawandel einige Katastrophen noch verheerender macht, gibt es gute Neuigkeiten. Regierungen, nichtstaatliche Organisationen und Privatpersonen verfügen über viele Werkzeuge, um die horizontale und vertikale Vernetzung zu fördern.

Gemeinnützige Organisationen wie das Australische Rote Kreuz, BoCo Strong in Boulder, Colorado und die regionale Katastrophenschutzorganisation von Wellington, Neuseeland nehmen soziales Kapital nun ernst und arbeiten an dem Aufbau stärkerer Resilienz. In diesen Programmen arbeiten Anwohner mit Zivilgesellschafts-Organisationen zusammen, um Verbindungen zu stärken und Netzwerke aufzubauen. Sie machen sich über die Anforderungen der Region Gedanken. Anstatt auf die Hilfe der Regierung zu warten, entwerfen die Regionen ihre eigenen Pläne, um zukünftige Krisen abzumildern.

Wie man Resilienz aufbaut

Gemeinden können Zusammenhalt und Vertrauen auf verschiedene Weise aufbauen. Zunächst können Anwohner es Fred Rogers gleichtun und Nachbarn kennenlernen, die in einer Krise als Ersthelfer zum Einsatz kommen. Darüber hinaus können ganze Gemeinden sich bemühen, Interaktionen und Vertrauen durch die Organisation von Sporttagen, Partys, religiösen Festen und anderen gemeinsamen Veranstaltungen, die Vertrauen und gegenseitiges Interesse aufbauen, zu vertiefen.

San Francisco stellt beispielsweise Finanzmittel für Anwohner bereit, um das NeighborFest, ein öffentliches Straßenfest, zu veranstalten. Stadtplaner und städtische Visionäre können lernen, wie Jane Jacobs zu denken, einer Befürworterin lebendiger Städte und dritter Räume – ein Begriff für Räume über Arbeitsplatz und Zuhause hinaus, wo wir Kontakte knüpfen können. Durch die Verwirklichung von dem, was Befürworter “Placemaking öffentlicher Räume” nennen, wie beispielsweise fußgängerfreundliche Straßen und öffentliche Märkte, können sie Städte so umgestalten, dass die soziale Interaktion gesteigert wird.

Schlussendlich können Gemeinden den Anteil ehrenamtlicher Tätigkeiten erhöhen, indem sie Menschen, die freiwillig ihre Zeit investieren, belohnen und ihnen einen konkreten Nutzen für ihre Dienste anbieten. Eine Möglichkeit dies zu tun, ist, eine regionale Währung zu entwickeln — beispielsweise mit Gutscheinen, die nur bei ortsansässigen Betrieben akzeptiert werden. Eine andere Strategie ist das Zeit-Banking, bei dem die Teilnehmer Punkte für ihre freiwillig geleisteten Stunden verdienen und diese später für Dienstleistungen anderer einlösen können.

Nach der Katastrophe im März 2011 hat eine Organisation in Tohoku versucht, Programme dieser Art, wie das Erzeugen und gestalten von sozialem Kapital, ins Leben zu rufen. Sie stellten einen  öffentlichen Raum bereit, der von evakuierten Senioren betrieben wurde und wo Nachbarn Kontakte knüpfen können.

Da Gemeinden weltweit immer öfter mit Katastrophen konfrontiert werden, hoffe ich, dass meine Forschungsergebnisse über die Ereignisse in Japan nach dem März 2011 eine Orientierungshilfe für Menschen, die sich Herausforderungen stellen müssen, sein können. Obwohl die materielle Infrastruktur wichtig ist, um kommende Katastrophen abzumildern, sollten Gemeinden auch Zeit und Mühe in die Ausbildung von sozialen Bindungen investieren.

Dieser Artikel erschien zuerst auf „The Conversation“ unter CC BY-ND 4.0. Übersetzung mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.


Image (adapted) „341887“ by  July Brenda Gonzales Callapaza (CC0 Public Domain)


The Conversation


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