Voraussichtlich Millionen von Menschen werden bei den Paralympics in Rio de Janeiro in diesen Tagen zusehen. Die Chancen stehen gut, dass man einen Schwimmer mit einem Bein auf dem Block neben einem Schwimmer mit zwei Beinen und zwei Armen sehen wird. Doch wie fair geht es dort zu? Das Geheimnis ist ein Prozess, der Klassifikation genannt wird. Das Konzept liegt dem gesamten paralympischen Sport zugrunde, aber es – und seine praktische Anwendung – ist wahrscheinlich das größte Hindernis beim Verständnis der Paralympics in der breiten Öffentlichkeit. Klassifikation ist der Prozess der Einteilung von Athleten in Gruppen, so dass sie gegen andere antreten, deren Beeinträchtigung sie zu einem ähnlichen Grad bei der Ausübung ihres Sports beeinflusst.
Wer kann antreten?
Die Paralympics sind für Athleten mit einer physischen, geistigen oder visuellen Beeinträchtigung. Aber nicht jede Person mit einer Behinderung ist für die Paralympics geeignet, und nicht jeder geeignete Athlet der Paralympics eignet sich für jeden Sport. Einige Sportarten, wie Leichtathletik oder Schwimmen, bieten Disziplinen für Athleten mit allen Beeinträchtigungen, die die Voraussetzung eines bestimmten Schwellenwerts der Behinderung erfüllen. Andere Sportarten, wie beispielsweise Fußball CP oder Goalball, sind für Athleten mit einer bestimmten Form der Beeinträchtigung reserviert. Das erste Element der Klassifikation ist also, zu bestimmen, ob ein Athlet eine Beeinträchtigung hat, die ihn für eine Sportart qualifiziert. Das zweite Element ist, die Gruppe des Athleten innerhalb der Sportart festzulegen. Sportarten wie Schwimmen haben ein funktionales Klassifikationssystem entwickelt, bei dem alle qualifizierten Athleten mit einer körperlichen Beeinträchtigung in eine von zehn Klassen eingeteilt werden (S1 bis S10). Diese basieren auf der Einschränkung ihrer Schwimmfähigkeit, die durch den Grad ihrer Beeinträchtigung bestimmt wird. Das bedeutet, dass Athleten mit einer Rückenmarksverletzung im selben Rennen schwimmen können wie Athleten mit zerebraler Kinderlähmung oder fehlenden Gliedmaßen. Das heißt aber auch, dass es möglicherweise bis zu 14 Durchgänge für eine einzige Schwimmdistanz bei jeder Durchführung der Paralympics gibt. Es gibt einen für jede der zehn körperlichen Klassen, drei Klassen für Sehbeeinträchtigungen und eine Klasse für Athleten mit geistigen Beeinträchtigungen.
Hoch- und Niedrigpunkter
Sportarten mit restriktiveren Qualifizierungskriterien beinhalten etwa Rollstuhl-Basketball, bei dem Athleten eine Beeinträchtigung haben müssen, die sie daran hindert, das Spiel für Nichtbehinderte zu spielen. Die Athleten werden dann nach dem Level ihrer Beeinträchtigung in einem Rollstuhl klassifiziert und erhalten eine Punktwertung. Spieler mit den geringsten Beeinträchtigungen erhalten die meisten Punkte (4,5) und die am meisten beeinträchtigten Spieler erhalten die wenigsten Punkte (bis zu 1,0). Um zu verhindern, dass das Spiel von Athleten mit hohen Punktwerten bestimmt wird, darf jedes Team insgesamt lediglich 14 Punkte zu jeder Zeit auf dem Spielfeld haben. Rollstuhl-Rugby nutzt ein ähnliches System, wobei die Punktwerte zwischen 0,5 und 3,5 liegen und bei vier Spielern höchstens 8 Punkte auf dem Spielfeld sein dürfen. Spieler mit hohen Punktwerten sind die Vorzeigespieler, aber jeder hat seine Rolle auf dem Spielfeld.
In der richtigen Gruppe
Ausgebildete medizinische Experten führen den Klassifikationsprozess durch, der auf umfangreichen Daten und Analysen beruht, die im Laufe vieler Jahre gemacht wurden. Es gibt ein strenges Bewertungs- und Berufungsprozedere. Aber es gibt unvermeidlich eine Bandbreite an Beeinträchtigungen innerhalb einer einzigen Gruppe, und es ist für jeden Athleten von Vorteil, zu den weniger beeinträchtigten Athleten innerhalb dieser Klasse zu gehören. Beispielsweise wurde die australische Schwimmerin Jaqueline Freney ursprünglich der Klasse S8 zugeordnet und gewann in dieser Klasse bei den Spielen 2008 in Peking drei Bronzemedaillen. Aber die australischen Behörden glaubten, dass Freney der falschen Gruppe zugeteilt worden war. Nach einem Berufungsprozess trat sie bei den Spielen 2012 in London in der Klasse S7 an und gewann acht Goldmedaillen. Wäre Freney in der Gruppe geblieben, in die sie ursprünglich (und fälschlicherweise) eingeteilt war, wäre sie in London bei vielen S8-Disziplinen leer ausgegangen. Da die Paralympischen Spiele immer bekannter und konkurrenzbetonter werden, steigt der Druck auf den Klassifikationsprozess, es richtig zu machen, und auf die Athleten, ihre Klassifikation zu optimieren. Die Klassifikatoren nutzen eine Bandbreite praktischer Tests und beobachten die Athleten in Wettkämpfen, wenn sie ihre Entscheidung treffen.
Betrüger den Garaus machen
Unvermeidlicherweise gibt es auch Betrugsanschuldigungen, manchmal auch bewusst falsche Darstellung genannt, bei der Athleten vorgeben, einen stärkeren Grad der Beeinträchtigung zu haben, als dies eigentlich der Fall ist. Das berühmteste Beispiel ist wohl der Fall des spanischen Basketballteams mit geistigen Beeinträchtigungen bei den Spielen im Jahr 2000 in Sydney. Nachdem das Team die Goldmedaille gewonnen hatte, stellte sich heraus, dass zehn der zwölf Spieler die Kriterien der Beeinträchtigung nicht erfüllten. Das australische paralympische Komitee beschäftigt einen Klassifikationsmanager, um die Athleten und den australischen Sport zu unterstützen, und hat ein umfassendes Klassifikationsprogramm. Die Athleten der richtigen Gruppe und dem richtigen Sport zuzuordnen kann bezüglich auf die Freude am Sport und ihren Chancen, auf paralympischen Niveau Erfolg zu haben, einen enormen Unterschied ausmachen. Man muss das Klassifikationssystem nicht verstehen, um die Paralympischen Spiele zu genießen. Ein besseres Verständnis kann aber zu einer höheren Wertschätzung der Prinzipien dieses besonderen Wettkampfes führen. Dieser Artikel erschien zuerst auf „The Conversation“ unter CC BY-ND 4.0. Übersetzung mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.
Image (adapted) „BT Paralympic World Cup 2009 Athletics: Men’s T54 – 800 Metres.“ by Stuart Grout (CC BY 2.0)
Artikel per E-Mail verschicken
Schlagwörter: behinderung, Gruppe, klassifikation, Konzept, Leichtathletik, öffentlichkeit, Paralympics, Rio2016, spiele, sport, wettbewerb