Klickhungrig – im Inneren der Blogwelt

Seit gut einem Jahr verbringe ich viel Zeit im Blog-All – oft genug mehr, als mir lieb ist. Es drängt mich deshalb, hier ein paar Bemerkungen zu meinen Erfahrungen und Beobachtungen als Astronaut im Universum der Bloggerinnen und Blogger zu äussern. Und ich bin gespannt, von MitastronautInnen zu erfahren, ob nur ich diese Welt so erlebe oder ob auch andere solche und ähnliche Beobachtungen machen. Ergänzungen sind willkommen.

Wenn ich von Blog-All und Universum schreibe, so soll damit zunächst die überwältigende Vielfalt der Blogosphäre zum Ausdruck kommen. Kaum ein Thema, das nicht aus unterschiedlichsten Perspektiven beleuchtet und – meist pointiert – kommentiert wird: Aquarien, Hartz IV, Neuerscheinungen von Büchern, Finanzkrise, Katzenpflege, Indien und, und, und …

Es würde mich nicht wundern, wenn es auch Blogs zur Herstellung von Schraubenmuttern, zur Überwindung von Trennungsschmerz oder zu Rezepturen von medizinischen Einläufen gäbe. Dann kommen ja noch die persönlichen Tagebücher hinzu, also die nicht themenzentrierten Blogs. Es gibt sodann Kunstblogs, Blogs zur Mobilisierung für politische, religiöse oder antireligiöse Anliegen. Es gibt Unternehmensblogs, Schnäppchenblogs, Wissenschaftsblogs und Watchblogs, die einzelne Unternehmen, Organisationen oder Medien kritisch begleiten. Und bei all dieser Vielfalt ist oft genug himmelschreiender Unsinn nur ein paar Klicks von hervorragenden Texten entfernt. Die Vielfalt und die schiere Menge an Anregungen und Informationen kann einen glatt überfordern und zu einer Art Info-Infarkt führen. Man verliert sich im Web-All – und plötzlich ist man leer, vor lauter Fülle ausgelaugt, irgendwie seiner selbst beraubt, und wünscht sich nichts sehnlicher als eine einfache Klause im Wald – natürlich ohne Internet-Anschluss – und ein schlichtes Leben, reduziert auf das Wesentliche.

Die Blogwelt ist furchtbar laut. Das ist ein Gezeter und Gekreische, ein Rufen und Plappern, ein Feilschen und Beschwören. Und dabei hört man, jetzt mal von Audio- und Videoblogs abgesehen, keinen einzigen Ton … Der Eindruck rührt wohl daher, dass die BloggerInnen um alles in der Welt Aufmerksamkeit erregen wollen – ja, müssen. Denn sonst werden sie nicht wahrgenommen, gehen unter im Meer des digitalen Grundrauschens. Es kommt mir manchmal vor wie an einer Demo, an der jeder für sein eigenes Anliegen demonstriert, mit den Armen herumfuchtelt, wild hüpft und laut ruft. Und jeder trägt ein grosses Plakat vor sich hin mit der Aufschrift: „Klick mich!“, „Klick mich!„, „KLICK MICH!“ Darunter leidet zuweilen der differenzierte Gedanke, das Subtile. Es wird holzschnittartig die eigene Meinung hinausposaunt, möglichst dezidiert, möglichst laut eben.

Vielleicht sind deshalb Verschwörungstheorien und andere abenteuerliche Spekulationen im Blog-All weit verbreitet. Empörung und Verachtung von Andersdenkenden sind ebenfalls ein wichtiger Motor in dieser Welt, nicht nur in den Beiträgen selbst, sondern auch in den Kommentaren. Das Extreme, Sensationelle bringt Klicks. Und steigende Klickzahlen sind das höchste der Gefühle für den Blogger. Ich beobachte ja auch an mir selbst, wie ich immer wieder auf die Zugriffszahlen schiele. Viele Blogs unterscheiden sich punkto Voyeurismus gar nicht so sehr von den anderen, ebenfalls sensationshungrigen Medien. Der Boulevard ist allgegenwärtig. Auch auffällig: Rechte bis rechtsextreme Blogs zählen zu den meistbesuchten Seiten, kursieren regelmässig bei den Top-Blogs zuoberst, zum Beispiel bei wordpress.com. Woran das liegen mag? Frage ich mal so ganz naiv.

Das Blog-All ist voller Sternschnuppen, die hell leuchten (wollen) und schnell verglühen. Wer die Klickzahlen erhalten oder steigern will, muss seinen Besucherinnen und Besuchern immer wieder neues Futter anbieten. Natürlich liegt das auch am Charakter des Mediums. Es ist niederschwellig. Ein Post ist mit ein paar schlichten Klicks veröffentlicht – was man ihnen zuweilen anmerkt … Es herrscht eben Quantität vor Qualität.

So ist sie nun mal, die Blogwelt – zumindest nehme ich sie so wahr. Trotzdem möchte ich sie nicht mehr missen. Dies sei angemerkt, wenn mich nun womöglich meine Mit-AstronautInnen im Blog-All ob meiner kritischen Bemerkungen am liebsten in der Luft zerreissen würden. Die wilde Flut der Blogs und Posts umspült wunderbare Inseln der Erkenntnis und der Horizonterweiterung, des Gesprächs und des Sichfindens. Wenn es nicht auch das Feinsinnige gäbe, das Kundige, das Poetische und die gemächlichen, ausgereiften Texte – ich hätte den Blogs längst den Rücken gekehrt. Denn Blogs sind nicht zuletzt auch eine potente Zeitvernichtungsmaschine.


Zusammenstellung der Web 2.0-Logos: liako via flickr (CC-Lizenz)


Crosspost von walbei

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5 comments

  1. Lieber Walter, ist es bei den Blogs nicht wie bei jedem anderen öffentlichen Medium? Es gibt gutes Fernsehen und Schlechtes, gute Zeitungen und Schlechte, gute Bücher und Schlechte! Es wird immer gut und schlecht geben. Und da darf man auch bei den Blogs nicht nach Höherem streben.

    „Das Extreme, Sensationelle bringt Klicks. Und steigende Klickzahlen sind das höchste der Gefühle für den Blogger.“

    Streiche „Klicks“ durch „Profit“ und streiche „Blogger“ und ersetze es durch „Investoren“ und du hast den einzigen Unterschied, den das Medium Blog noch von anderen Medien unterscheidet?

    Womöglich steckt doch mehr dahinter? Im Endeffekt mag ich meine 4 – 5 Blogs, die ich tägliche anpeile und der Rest kann mir gestohlen bleiben ;)

  2. Gibt es gutes Fernsehen? ;-)

    Da habe ich schon noch etwas andere Erwartungen an die Blogwelt – weil sie individualistischer ist – äh, sein könnte, weil der Blog ein recht niederschwelliges Medium ist – ein Computer mal vorausgesetzt – und weil Blogs schwieriger zu kontrollieren sind als andere Medien. Gerade diese Eigenschaften führen natürlich auch zur herrlichen Kakofonie der Blogosphäre.

  3. Sehr gut geschrieben. Da ziehe ich meinen Hut. So würde ich auch gern schreiben können. So perfekt zusammengefasst und doch Platz gelassen für die Ansicht der Leser.
    Das mit dem Schild empfinde ich nun nicht wirklich so bei den Blogs. Wobei manchmal schon. Es passt doch.

  4. Sehr interessante Reflexion.
    @Doubleyou: Das Schielen auf Klickzahlen ist anders motiviert als die Gier nach Geld. Beim Bloggen wie bei der gesamten Interaktion im Social Web wirken psychische Bedürfnisse und Mechanismen, „das die Schwarte kracht“.

    Das grundlegende Phänomen könnte man „Resonanzsucht“ nennen. Die Resonanz und insbesondere die positive Resonanz ist eine psychische Belohnung, jedesmal ein kleiner Kick, ein Ausstoß vor irgendwelchen endogenen Stoffen im Hirn – „*freu*“.
    Ich finde es manchmal bedrückend zu sehen, wie sehr man danach süchtig ist. Wie sehr jedes kleines Sternchen die Stimmung hebt.
    Neu ist das natürlich nicht. Es sind Funktionsbedürfnisse der menschlichen Seele, die sich aus dem Offline-Social-Web ins Online-Social-Web nahtlos übertragen haben. Online wirkt das alles noch überdüngter, noch übergekochter. Ist auch gefährlicher, wenn man an Online-Mobbing-Opfer denkt. Heilsam ist da nur, sich daran zu erinnern, das die ganze Meinungsschreiberei und das „Veröffentlichen“ nur noch wie ein Regen ist, der in den Fluss strömt und von dort in die ozeanischen Speicher geht. Die Resonanz, die ich dir heute gebe, habe ich in ein paar Tagen schon selbst wahrscheinlich wieder vergessen. Das spielt aber auch keine besondere Rolle, denn deine und meine Meinungen, Beobachtungen und Hirnmoleküle gibt es wahrscheinlich im Web einige tausende Mal in ähnlicher Ausführung. Wie Wolken, saugen wir auf und lassen es dann wieder abregnen, angetrieben von der „Resonanzsucht“. Das Beste, was man darüber sagen kann, dass immerhin viele Menschen durch das Web aus Einsamkeiten herausfinden, wie ihnen das offline nie möglich wäre. Das ist doch großartig.
    Aber lustig, wie gerade heute selbst der Nobelpreisträger Paul Krugmann das hier bloggt: http://nyti.ms/gZ40GN

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