Beim durchfluten meiner Bibliothek und meines digitalen Archivs stoße immer wieder auf sehr schöne Lektürefrüchte und bin immer wieder überrascht, was ich schon so alles gelesen habe. Interessant sind immer wieder die Lektüretechniken, die mir über den Weg laufen. So fragt der Künstler Bazon Brock seinen Freund und Philosophen Peter Sloterdijk, wie er denn sein unglaubliches Lesepensum bewältigen würde. Brock selbst finde es „tollkühn“, wenn er lesenderweise von Seite zwei auf Seite drei komme. Sloterdijk bezeichnet seine Art des Lesens als „inhalatorisch“.
Peter Weibel, Medientheoretiker und Vorstand des Karlsruher Zentrums für Kunst und Medientechnologie (ZKM) hingegen liest nicht quer, er scannt die Bücher und braucht gerade mal 20 Minuten für ein Werk. Brock vergleicht die Einverleibung eines Buches mit der Einverleibung einer Mahlzeit. Bertold Brecht fand mit sicherem Griff eine Vielzahl von Texten, die er gebrauchen, bearbeiten, verwerten konnte: „Er hatte bekanntlich keine Scheu, sich die Lektüreerfahrung anderer nutzbar zu machen. Auf diese Weise akkumulierte er eine erstaunliche Menge Lesestoff“, schreiben Helmut Lethen und Erdmut Wizisla im Brecht-Jahrbuch 23 (1997/98).
Zettelkasten-Literat
Der Autor Walter Kempowski war ein Sammler, ein Kompilator, ein Zusammenträger von Fundstücken und hat daraus nie ein Hehl gemacht. Im Gegenteil. Er hat über seine Methode stets bereitwillig Auskunft gegeben, hat seine Interview-Collagen mit den TV-Film-Collagen seines Freundes und Filmregisseurs Eberhard Fechner verglichen: Aufzeichnungskünste einer neuen Volkskunde. Folgerichtig ist Kempowski von der Literaturkritik etwas abschätzig als „Zettelkasten-Literat“, eifriger Jäger und Sammler und Museumsdirektor einer literarischen Ausstellung tituliert worden. Doch nur mit dieser Arbeitsmethodik konnte das kollektive Tagebuchprojekt „Echolot“ entstehen. Der Literaturkritiker Jörg Drews stellte zu Recht fest, Kempowski erfülle das Vermächtnis Walter Benjamins, der sich seine Pariser Passagen als pure Montage von Zitaten gedacht hatte, die so sprechend zu arrangieren seien, dass der Kommentar des Autors überflüssig werde.
Lektüre durch Handauflegen
Noch spannender ist die Recherche- und Lektüre-Methode des Religionsphilosophen Jacob Taubes, der ein wichtiges Werk und eine zentrale Botschaft schon durch Handauflegen erkannte. Es war seine Art, die für ihn wichtigen Werke zu lesen. Er war ein Jäger des einen Satzes oder Wortes, in dem sich das Wesentliche des Geschriebenen kondensierte.
Taubes hatte ein Gespür für aufkommende Themen. Das bringt der Literaturwissenschaftler Walter Sokel sehr treffend auf den Punkt: „Bevor es Google gab, gab es Taubes.“ Ein Reisender, der Ideen streut und in neuen Kontexten zugänglich macht. Für den Suhrkamp-Verlag entdeckte er Autoren wie Claude Levi-Strauss, Roland Barthes, Lucien Goldmann, Isaiah Berlin, Daniel Bell und Alexandre Koyré. Er hörte das Gras bereits auf den Schreibtischen wachsen.
Die wahre Kunst des Kuratierens
Das Gespräch stand im Mittelpunkt seiner intellektuellen Persönlichkeit. Taubes war ein Gelehrter des gesprochenen Wortes. Im Dialog entwickelte er seine Gedanken. Die Auseinandersetzung mit einem realen Gegenüber wurde zum Katalysator seines Denkens. Ein Kurator, der Neues nicht nur aufspürt, sondern Gegenläufiges kombiniert. Das unterscheidet sich grundsätzlich von der inflationären Verwendung des Begriffs „Kuratieren“. Selbst ernannte Social-Media-Gurus wollen schlichtweg Content kuratieren oder aggregieren. Sie beschränken sich in der Regel auf das Auswählen – mehr nicht. Es geht aber um mehr. Es geht um Annahmen, Gegenüberstellungen, Begegnungen, neue Erkenntnisse, Experimentiermöglichkeiten und Assoziationen. Unmögliches möglich machen – hier sieht das Notiz-Amt die Aufgabe des Kurators, den Rest erledigen Maschinen.
Teaser & Image „Magnifier“ (adapted) by shotput (CC0 Public Domain)
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Schlagwörter: inhalte, Jacob Taubes, Kuration, Literatur, suchmaschine
3 comments
Könnte man den Berthold Brecht noch in Bertolt Brecht verwandeln. Mein Fehler, ich Depp.