Manfred Spitzer kommt in seinem Buch Digitale Demenz nicht nur zu falschen Schlüssen. Es stellt auch eine Bedrohung für das bisher Erreichte in Bildung und Kindererziehung dar.
Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer kommt am Schluss seines Buches „Digitale Demenz“ zu einem resoluten und unmissverständlichen Urteil: „Digitale Medien führen dazu, dass wir unser Gehirn weniger nutzen, wodurch seine Leistungsfähigkeit mit der Zeit abnimmt.“. Ich muss ein Geständnis machen. Es war quälend und für mein Gehirn sicherlich eine Belastung. Das Spitzer-Werk wurde von mir in digitaler Version konsumiert und ich spürte förmlich die Schrumpfung meines Geistes. Das ist natürlich alles Schwachsinn: Die digitale Kommunikation ist so vielfältig, dass ich darauf nicht mehr verzichten möchte. Soll ich mit Freunden via Dosentelefon schnattern, Botschaften über Rauchzeichen übermitteln und Liedgut mit der Maultrommel einüben, um das Gehirn vor unliebsamen 0/1-Codierungen zu schützen?
Der liebwerteste Psychiatrie-Gichtling Spitzer hat mit seiner Bilanz vollkommen recht. Der Konsum digitaler Medien steigt nicht nur unter Jugendlichen dramatisch an. Musikmanager, Tourismus-Anbieter, Videotheken-Besitzer, Verleger, Banken und Taxizentralen bekommen das jeden Tag schmerzlich zu spüren. Es liegt an der Immaterialität, mit der bestehende physikalische Grenzen eingerissen werden. Warum soll ich denn noch in die Videothek marschieren, um mir eine DVD auszuleihen, wenn die Apple-TV-Box am Fernseher alles Nötige bietet und sogar über das bestehende Angebot hinausgeht – wie Vorschau, Suchfunktionen oder längere Mietzeit. Die Digitalisierung lässt selbst traditionelle Industrieprodukte und Dienstleistungen smart werden. Sie ist kein Teufelswerk, sondern in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft bereits Lebensrealität. Und die Vernetzungseffekte stürzen die Internet-Nutzer auch nicht in Isolation und Vereinsamung, wie Spitzer insinuiert. Sie führen sogar zu einer Ausweitung der sozialen Reichweite. Soziale Netzwerke ermöglichen die Teilnahme an vielfältigen Aktivitäten, die ohne Internet gar nicht möglich wären. Es ist vor allem das kommunikative Potenzial der digitalen Welt, das hier Wirkung zeigt. Dahinter steht eben die Netzwerk-Logik. Wer sich im Social Web mit anderen verbindet, ist fortan auch eingebunden in die sozialen Interaktionen seiner „Internet-Freunde“. Der Soziologe Mark Granovetter spricht von der Theorie der schwachen und starken sozialen Bindungen.
Digitaler Medienkonsum und Sauerstoffverbrauch
Mit den engeren Kontakten kommuniziere ich im Café, in der Kneipe, via E-Mail, Skype oder Telefon – die öffentliche Kommunikation in sozialen Netzwerken zielt auf die entfernteren Bekanntschaften und auf die anonyme Gemeinschaft aller anderen Mitglieder. Onliner, die sich in Netzgemeinschaften organisieren, sind keine lichtscheuen Elemente oder Bildschirmjunkies, die sich hinter ihren Monitoren verkriechen – eingebettet von Pizzakartons. Sie verbringen ihre Zeit im Netz eben nicht auf Kosten der Pflege von Offlinekontakten, sondern auf Kosten ihres Konsums von klassischen Massenmedien. Onliner sind in der Regel sozial hochkompetente, kommunikationsfreudige und engagierte Menschen. Der digitale Medienkonsum sagt deshalb als statistische Größe für das Horrorszenario von Spitzer so viel aus wie der tägliche Sauerstoff-Verbrauch von Säugetieren. Man könnte also zur Tagesordnung übergehen und das professorale Besserwisser-Getue von Spitzer ad acta legen. Sein schnarrender und autoritärer Kasernenton, den man in der Talkrunde von Günther Jauch erleben durfte, wirkt abstoßend genug. Der Erfolg seiner digitalen Demenz in Deutschland ist jedoch ein wichtiger Grund, ihm dauerhaft Paroli zu bieten mit der Botschaft: Digital ist besser!
Dabei sollte man nicht vor der pseudowissenschaftlichen Attitüde von Spitzer in die Knie gehen. Die Gegner würden in der Regel vor der Hirnforscher-Pose des Buchautors einknicken, wie Martin Lindner treffend bemerkt: „Die Ergebnisse Ihrer Forschungen bestreite ich ja gar nicht, aber …“ Und schon hat der Demenz-Schriftsteller gewonnen. „Wäre er nicht der ärztliche Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik in Ulm, mit vielen peer-reviewten englischsprachigen Aufsätzen zur Wirkung von Depressionen und Sucht auf das Langzeitgedächtnis, würde kein Hahn danach krähen. Sobald man ein klein wenig näher hinschaut (was NormalleserInnen nicht tun und auch kaum können), sieht man, dass es hier keine (!) klaren wissenschaftlichen Ergebnisse gibt, die als bewiesen gelten dürfen – obwohl Spitzer ständig gegen seine Feinde, die Medienpädagogen, polemisiert und auf ‚über 200 Studien‘ verweist, die er ausgewertet habe“, führt Lindner aus.
Plädoyer für eine Spitzer-Gegenteil-Bewegung
In der After-Jauch-Show, an der ich auch teilnahm, machte Martin Lindner dann noch eine interessante Anregung. Man sollte das Spitzer-Werk kollaborativ auseinandernehmen – ähnlich wie die Doktorarbeit von Ex-Minister Gutti. Erste Ansätze sind auf Carta und im Dotcom-Blog nachzulesen. Noch einen Schritt weiter geht der Gaming-Experte Christoph Deeg, der im Interview mit mir zu einer Anti-Spitzer-Bewegung aufruft.
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Es reiche nicht aus, das demente Büchlein zu zerlegen und die Fakten-Melange auf Richtigkeit zu prüfen. „Alte Männer wie Spitzer präsentieren keine Lösungen für den Trend zur Vernetzung, sie sind das Problem, warum wir in Deutschland immer mehr in digitaler Mediokrität versumpfen. Der Erfolg des Spitzer-Werkes zeigt doch, wo wir stehen. Wir können lange erzählen, dass wir eine moderne Technologienation sind“, kritisiert Deeg.
Die Welt bestehe nicht nur aus Suchtkranken, die Spitzer in seiner täglichen Arbeit erlebt. Was passiert aber jetzt mit den Allgemeinplätzen, die der Professor in seiner „Digitalen Demenz“ ausbreitet? „Eltern lesen dieses Buch oder hören davon und bekommen eine tiefgreifende Panikattacke. Im schlimmsten Fall sagen sie zu ihren Kindern: ‚Das sollst du nicht mehr machen.‘ Die Kinder sagen ‚wunderbar‘ und reagieren wie bei allen anderen Verboten. Sie werden sich dann eben woanders ins Internet begeben. Der nächste Schritt ist, dass die Eltern zu den Pädagogen gehen und ihnen auch sagen, dass sie nicht mehr mit digitalen Medien arbeiten sollen. Als Endergebnis entfernen wir komplett eine wichtige Lebensrealität der Jugendlichen. Als Resultat wissen Eltern und Lehrer nicht mehr, was in der digitalen Welt wirklich passiert“, sagt Deeg.
Krieg der Generationen
Spitzer beschädigt damit das Vertrauensverhältnis zwischen den Generationen. „Es geht doch nicht darum, dass Menschen nur noch vor dem Rechner sitzen. Warum kommen Eltern und Pädagogen nicht auf die Idee, mit Jugendlichen und den Kindern das Internet und die digitalen Welten zu erschließen? Diese Möglichkeit macht Spitzer kaputt“, betont Deeg.
Der Demenz-Autor habe von der Digitalisierung so viel Ahnung wie eine Kuh vom Sonntag: „Wir alle, die im digitalen Raum arbeiten, müssen das ernst nehmen und uns auch selber hinterfragen. Wir haben es wohl nicht geschafft, in der Bevölkerung ein Vertrauen aufzubauen gegenüber den Chancen der digitalen Technologien. Wir brauchen als Gegenkonzept zu Spitzer einen klar strukturierten Fünf-Jahresplan. Wir dürfen nicht nur dagegen argumentieren und ein paar Studien mit auf den Weg geben“, fordert der Gaming-Enthusiast. Ansonsten verspielen wir die Möglichkeiten zur Gestaltung der digitalen Gesellschaft.
Mehr zu Themen des Netzes und dem digitalen Wandel gibt es auch vom European-Kolumnisten Lars Mensel in seinem aktuellen Artikel „Warten im Zeitalter von Smartphones – Nie mehr Langeweile“.
Text: Der Artikel „Manfred Spitzers Digitale Demenz – Der digitale Kaputtmacher“ von Gunnar Sohn ist zuerst erschienen auf www.theeuropean.de
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Schlagwörter: bildung, Digitale Demenz, Digitale Gesellschaft, Manfred Spitzer, Medienkompetenz, P