Marie Kondō extrem: Wie minimalistisch ist das digitale Nomadenleben?

Marie Kondō räumt auf: in Büchern, auf Netflix, gefühlt auf der ganzen Welt. Ihre Methode steht für ein entrümpeltes Leben, das sich materiell auf das beschränkt, was einem ein gutes Gefühl vermittelt oder was man wirklich braucht. “Dieses Gefühl der Leichtigkeit, der Freiheit ist unvorstellbar schön.” sagt Jasmin Dünker, eine von vier zertifizierten KonMari Beraterinnen in Deutschland in einem Stern-Interview.

Ein Gefühl, das oft auch bei uns digitalen Nomaden vermutet wird, denn wir leben ja aus dem Rucksack, mit all unserem Hab und Gut in der Hand und einem Laptop als Büro – vollends minimalistisch. Wenn das so wäre, dann müsste Frau Kondō wahrscheinlich bei uns Minimalismus-Weltmeistern in die Lehre gehen und sich eine Scheibe was auch immer von uns abschneiden (in Japan isst man ja kein Brot). Aber wie so oft ist das alles nur die halbe Wahrheit.

Wir misten aus – zwei Jahre lang

Tatsächlich haben meine Frau und ich vor unserer Abreise kräftig aussortiert, verkauft, verschenkt, gespendet und dann wieder von vorne begonnen. Schon als wir zusammengezogen sind, haben wir unsere Haushalte mindestens halbiert. Doch am Ende sollte ja alles so reduziert sein, dass wir es tragen können. Also ging es weiter.

Nach knapp zwei Jahren lagen zwei Rucksäcke und zweimal Handgepäck vor uns. Lustige 21 Kilogramm je Rückenfoltergerät, mit allem, was wir für unser neues Leben brauchen sollten. Aber schon damals war es eine Mogelpackung, denn diverse Möbel und Kisten mit Küchensachen und Winterklamotten lagern bis heute bei Verwandten auf Dachböden und in Kellern ein. Viel ist es nicht, aber wesentlich mehr als wir tragen könnten.

Die Taxifahrer waren nicht einverstanden

Kuala Lumpur im Mai; brütende, tropische Hitze. Zum ersten, aber nicht letzten Mal sehen wir einen Taxifahrer, der sich beim Anheben unseres Gepäcks fast den Rücken bricht. Lächelnd hören wir immer wieder, dass die Dinger doch überraschend schwer und wir mit viel Gepäck unterwegs seien. Nunja, wir sind auch nicht nur für zwei Wochen Baderurlaub hier, sondern das da ist unser gesamter (aktiver) Besitz. “Achso, haha, das ist ja dann doch ganz wenig”, nickt man uns dann zu.

Wir sortieren umgehend noch einmal zehn Kilo aus. Unglaublich, aber es geht. Ich muss so notwendige Dinge wie einen metallenen Schuhanzieher zurücklassen, ein Austernmesser und einen Wetzstahl. Leider schickte ich an diesem Tag auch den falschen, nämlich unbearbeiteten Stapel Notizhefte nach Hause. Der Schuhanzieher kostet mich einen Drink, weil er der unsinnigste Gegenstand in unserem Gepäck ist. Wobei Madame den Wetzstahl und vor allem das Austernmesser für noch unsinniger hält. Weil man mit einem Austernmesser nicht nur Austern öffnen, sondern auch Eisklumpen zerkleinern oder es generell als sehr bruchfestes, spitzes Werkzeug benutzen kann, gab die Einzige irgendwann auf und wir einigten uns auf den Schuhanzieher. Schließlich habe ich kein einziges Paar feste Schuhe dabei. So. Jetzt aber: Ab sofort reisen wir minimalistisch!

Wo war der Fließpulli nochmal?

Schon bald merkten wir, dass wir eigentlich doch zu wenig mithatten. In Vietnam kaufen wir Regencapes, auf Bali fehlt uns ein Surfbrett, Ersatz-Badehosen und Lycras. In Phuket brauche ich dringend eine Taucherbrille für den mittäglichen Erholungsschnorchelgang; in Sydney fehlt uns einfach alles, was Wärme spendet, denn für September ist es leider “ungewöhnlich” kalt – vor allem in der Wohnung. In Ericeira bemerken wir, dass ohne eine externe Maus, Tastatur und irgendwas zum Laptop aufbocken, die Nacken- und Rückenprobleme wohl nicht mehr in den Griff zu bekommen sind.

Unter drölf Koffer als Reisegepäck reist man noch leicht

Brauchen wir doch so viel zum Leben – und arbeiten? Natürlich habe ich Menschen getroffen, die mit noch viel weniger durch die Welt gezogen sind und sich irgendwie durchgeschlagen haben. Eine Freundin meiner Tante fuhr 20 Jahre (!) mit dem Fahrrad durch die Welt.

Wir alle haben eines gemeinsam: Wir nennen wenig unser Eigentum. Doch besitzen wir eine ganze Menge. Wir besitzen es nur nicht dauerhaft. Wir leihen uns ständig irgendetwas. Wir mieten (= entgeltliches Leihen) uns nicht nur eine Wohnung oder ein Gruppenzimmer-Bett, sondern wir mieten uns auch Klopapier, Deckenlampen, Kochtöpfe, Nudelsiebe, Besteck und Austernmesser. Wir zahlen dafür, dass alles (einigermaßen) sauber gemacht wird und “brauchen” deshalb keinen Staubsauger, Wischmop oder diverse Putz-Chemikalien; wir brauchen kein Werkzeug um ein Klo an die Wand zu tackern, weil das macht der Hostel- und AirBnB-Eigentümer, den wir mit unserer Miete dafür entlohnen. Wir kaufen uns keine Drucker, WLAN-Router oder ergonomische Sitzmöbel, weil wir das alles irgendwo mitnutzen. Und natürlich leihen wir uns Surfbretter, Roller und Autos.

Ich will all das in meinem Leben haben. Nur nenne ich es nicht mein Eigentum und belasse es (meist) an Ort und Stelle. Wenn ich alles zusammenrotten würde, was ich mir in den letzten Monaten geliehen und benutzt habe, dann würde ich ebenfalls vor ganzen Umzugscontainern stehen.

Schlussplädoyer

Travel light, live minimal – Gute Idee! Die meisten Menschen in Industrienationen kaufen wirklich zu viel Unsinn. Weniger Materielles zu haben bedeutet auch, weniger Materielles zu wollen und das kann nur gut für unseren Geisteszustand und den Rest der Welt sein. Aber als dauerreisender digitaler Nomade, so ehrlich muss ich sein, bin ich nicht der König des Minimalismus und der Nachhaltigkeit. Der Anblick meines 15,4 Kilo leichten Rucksacks (und meines einen exakt acht Kilo schweren Handgepäckstückes) soll mich nicht glauben lassen, das sei wirklich alles, was ich zum Leben und Arbeiten bräuchte. Aber leihen statt kaufen – das ist ja ebenfalls stark im Trend. Und “sharing is caring”, sagte die liebe Marie Kondō bestimmt auch einmal, als sie mit einem guten Gefühl ins DriveNow Auto stieg und von ihrer letzten Entrümpelung ins 5-Sterne-Hotel fuhr.


Images bei Katsche Platz

arbeitete zuletzt in Hamburg als Kreativer bei freundlichen Werbeagenturen und trieb sich als Poet im Zwielicht herum. Da er im Herzen ein Reisender ist, wurde er zum digitalen Nomaden. Aus der Ferne textet und konzipiert er für Startups, den Mittelstand oder Konzerne wie Mercedes und Lufthansa. Katsche doziert an der Hamburg School of Ideas und spricht in seinen Vorträgen viel über Mut, Vertrauen und das Arbeiten in einer kreativen, digitalen Gesellschaft.


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