Es scheint offensichtlich zu sein. Man kommt zur Kasse und sieht, dass eine Warteschlange viel länger ist als die andere, also stellt man sich an der kürzeren an. Es dauert jedoch nicht lange, bis die Menschen in der längeren Schlange an einem vorbeisausen, während man sich noch kaum in Richtung Ausgang bewegt hat.
Wenn es um das Thema Schlangestehen geht, ist die instinktive Wahl oft nicht die schnellste. Weshalb fühlt es sich so an, als wenn sich die Schlangen verlangsamen würden, sobald man sich ihnen anschließt? Und gibt es einen Weg, vorab entscheiden zu können, welche Schlange beim Anstellen die richtige ist? Mit diesen Fragen beschäftigen sich Mathematiker seit Jahren. Können sie uns also helfen, weniger Zeit beim Schlangestehen zu verbringen?
Die intuitive Strategie scheint die Wahl der kürzesten Warteschlange zu sein. Immerhin könnte eine kurze Schlange auf einen effizienten Kassierer und eine lange Schlange auf einen unerfahrenen Kassierer oder auf Kunden, die viel Zeit benötigen, hindeuten.
Ohne die richtigen Informationen könnte es sogar nachteilig sein, sich bei der kürzesten Schlange anzustellen. Wenn beispielsweise in der kurzen Schlange im Supermarkt zwei sehr volle Einkaufswagen stehen, während sich in der längeren vier relativ leere Einkaufskörbe befinden, würden sich sogar viele Personen der längeren Schlange anschließen. Falls die Kassierer gleich effektiv sind, ist die wichtige Größe hier nämlich die Anzahl der Artikel und nicht die Anzahl der Kunden. Wenn hingegen die Wagen nicht voll wären, die Körbe hingegen doch, würde es nicht mehr so einfach abzuschätzen sein und die Wahl wäre keine eindeutige.
Dieses einfache Beispiel führt das Konzept der Servicezeitverteilung ein. Dies ist eine Zufallsvariable, die misst, wie lange es dauert, einen Kunden zu betreuen. Sie enthält Informationen über die durchschnittliche Servicezeit und über die Standardabweichung vom Mittelwert, welche wiederum zeigt, wie die Servicezeit, abhängig davon, wie lange verschiedene Kunden brauchen, schwankt.
Die andere wichtige Variable ist, wie oft sich Kunden in der Warteschlange anstellen (Ankunftsrate). Diese hängt von der durchschnittlichen Zeit ab, die zwischen dem Betreten des Ladens zweier aufeinanderfolgender Kunden vergeht. Je mehr Menschen eintreffen, um eine Leistung zu einem bestimmten Zeitpunkt in Anspruch zu nehmen, desto länger werden die Warteschlangen sein.
Je nachdem, wie groß diese Variablen sind, könnte es am besten sein, sich in der kürzeren Schlange anzustellen – oder eben auch nicht. In einem Laden für Fish and Chips könnte es beispielsweise zwei Mitarbeiter geben, die beide Bestellungen aufnehmen und kassieren. Dann ist es meistens besser, sich in der kürzesten Schlange anzustellen, da die Zeit, die die Aufgaben der Servicekräfte in Anspruch nimmt, nicht wirklich variiert.
Leider ist es in der Praxis schwierig, die relevanten Größen genau zu kennen, sobald man ein Geschäft betritt. Man kann also nach wie vor nur raten, welche die schnellste Schlange sein wird, oder man setzt auf psychologische Tricks, wie zum Beispiel dem, sich in der Schlange anzustellen, die sich am weitesten links befindet, da die meisten Rechtshänder dazu tendieren, automatisch nach rechts zu gehen.
War das die richtige Wahl?
Sobald man in der Schlange steht, möchten man wissen, ob man die richtige Entscheidung getroffen hat, wie zum Beispiel die, ob der gewählte Kassierer der schnellste ist. Es ist einfach, die tatsächliche Länge der Warteschlange zu beobachten und anschließend zu versuchen, diese mit dem Durchschnitt zu vergleichen. Dies steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Mittelwert und der Standardabweichung der Servicezeit mittels der sogenannten Pollaczek-Chintschin-Formel, die erstmals 1930 aufgestellt wurde. Sie verwendet ebenfalls die durchschnittliche Zeit für das Nähertreten der Kunden.
Wer aber versucht, die Zeit zu messen, die die vorderste Person der Schlange beim Kassieren benötigt, wird am Ende womöglich leider glauben, dass er die falsche Warteschlange gewählt hat. Es wird hier von Fellers Paradoxon oder dem Beobachtungsparadoxon gesprochen. Technisch gesehen ist dies eigentlich kein logisches Paradoxon, sondern ist entgegen unserer Intuition. Wenn man beginnt, die Zeit zwischen zwei Kunden zu messen, sobald sie sich in der Schlange anstellen, ist es wahrscheinlicher, dass der erste Kunde, den man sieht, durchschnittlich länger bei der Kasse brauchen wird. Dies wird dem Beobachter das Gefühl geben, dass er Pech hatte und die falsche Schlange gewählt haben.
Das Beobachtungsparadoxon funktioniert so: Angenommen, eine Bank bietet zwei Dienste an. Eine Dienstleistung dauert entweder null oder fünf Minuten, jeweils mit gleicher Wahrscheinlichkeit. Die andere Dienstleistung dauert entweder zehn oder 20 Minuten, wieder jeweils mit gleicher Wahrscheinlichkeit. Es ist gleichermaßen wahrscheinlich für einen Kunden, einen der beiden Diensten zu wählen. Somit beträgt die durchschnittliche Servicezeit der Bank 8,75 Minuten.
Falls man sich also in der Schlange anstellen sollte, während ein Kunde gerade bedient wird, kann deren Servicezeit nicht null Minuten betragen. Diese Schlange muss also entweder den fünf-, zehn-, oder 20-minütigen Dienst nutzen. Dies verschiebt die Zeit, die ein Kunde benötigt, auf über 11 Minuten im Durchschnitt, also mehr als der echte Durchschnittswert von 8,75 Minuten. Tatsächlich begegnet man derselben Situation in zwei von drei Fällen, nämlich, dass der Kunde entweder den 10- oder 20-minütigen Service haben möchte. Dies wird den Anschein machen, als ob sich die Schlange langsamer vorwärtsbewegt, als sie es eigentlich sollte, nur, weil ein Kunde schon dort ist und weil man selbst Zusatzinformationen hatte.
Während wir also die Mathematik nutzen können, um zu versuchen, die schnellste Warteschlange zu ermitteln, sind wir mangels exakter Daten – und zu unserer eigenen Beruhigung – oft besser dran, ein Risiko einzugehen und nicht nach anderen Möglichkeiten auszuprobieren, sobald wir unsere Entscheidung getroffen haben.
Dieser Artikel erschien zuerst auf „The Conversation“ unter CC BY-ND 4.0. Übersetzung mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.
Image (adapted) by Paul Dufour (CC0 Public Domain)
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Schlagwörter: Beispiel, Daten, Formel, Kunde, Mathematik, Psychologie, Service, Warten, Warteschlange, Wissenschaft, Zeit, Zeitwahrnehmung
1 comment
Die ganze Beobachtungsparadoxon-Problematik und der damit verbundene Wartestress der Kunden (Ungeduld, falsche Schlange gewählt wegen x-facher Gründe) lässt sich vor den Kassen-/Schalterzonen in Supermärkten recht einfach entschärfen, wenn für die Kunden bautechnisch nur noch eine einzige Schlange angeboten und die Einzelabfertigung (zusammen mit Korb/Einkaufswagen) erst am Warteschlangenanfang durch die einzelnen Kassierer/Schalterangestellten gesteuert wird (durch rote/grüne Lichtsignale oder Nummernzuweisung für den jew. nächsten Kunden). Bewährte Vorbilder gibt’s doch schon genügend: Grenzabfertigung/Pass-Kontrollstellen auf vielen Flughäfen der Welt, Schalterhallen bei Postfilialen/Behörden etc.