Medien in Geiselhaft

CanettiLieber eine sichere Kirche voll von Gläubigen als die unsichere ganze Welt.“ Elias Canetti

Wer die letzten Tage eine Zeitung aufgeschlagen hat oder den Fernseher abends einschaltete kam nicht umhin, an das Stockholmsyndrom zu denken. Da war ein Mann zu sehen oder zu lesen, der kostenlos mit aufwendig abgezirkelten Stammtischparolen für ein Machwerk werben konnte, das weder inhaltlich noch methodisch Innovatives zur gesellschaftlichen Diskussion beitragen kann. Und die Geiseln hatten ein wirkliches Interesse an den unlauteren Motiven des Geiselnehmers – sie waren fast versucht, etwas zutiefst Menschliches in ihm zu finden. Fast wie der schwarze Ring, der brandneue Verein der philantropischen Täterschützer.

Man könnte an die alten Interessensgruppen denken, die Ressentiments schüren wollen, um von ihren Geschäften abzulenken, man könnte auch an die hochnotpeinliche Bewegung der heiligen Inquisition denken, die im Gewand des ewigen Bürgerlichen auf der Suche nach der Mitte den Einen oder Anderen auf den Scheiterhaufen der traditionellen Presseerzeugnisse stellt. Alles was im Wandel begriffen ist, muss ja dort sowieso schon seit Jahrzehnten immer wieder mit mental fragwürdigen Brandbeschleunigern zum Lodern gebracht werden…

Das Schlimmste an dieser ganzen Misere ist die Indienstnahme aller (Qualitäts)Medien zum Zwecke der Profilneurose. Der arme Mann ist offensichtlich verwirrt. Seine Thesen sind in keiner Weise aus dem Zettelkasten der souveränen Gedankentätigkeit erwachsene Bonmots oder gar luzide Hinweise auf übersehene Gegebenheiten, die der aktuellen Debatte über den demografischen Wandel, das besondere urbane Leben oder die kulturtheoretischen Metabetrachtungen einen besonderen Spin oder etwa ein neue Perspektive liefern. Es ist eine lustige Verhohnepipelung statistischer Analyseverfahren zum Zwecke der fadenscheinigen Substantiierung kruder Meinungen. Damit schafft er Sicherheit in amorphen Zeiten.

Es ist sicher so, dass viele Menschen sich freuen, dass ihre eigenen Projektionen aka Ängste endlich von einem Outlaw der Politikszene inszeniert werden. Mit seinem Sprachtick, also, und der offensichtlich, also, vom Anerkennungszwang geschundenen Seele, also, erscheint er so unangreifbar, dass man ihm, dem krakeelenden Kranken, eigentlich nichts krumm nehmen dürfte. Wer wollte schon auf einem seelisch Beeinträchtigten rumtrampeln? Aber er sublimiert seine Phobien öffentlich zu einem Bestseller. Respekt, oder?

Aber an genau dieser Stelle versagen fast alle Medien. Denn ganz wie das Rezept der Bildzeitung funktioniert auch diese Simulation eines öffentlichen Diskurses. Es wird einfach eine strategische Projektion vorgenommen: Man schaut dem Volk aufs Maul (oder tut zumindest so) und erklärt der Bevölkerung seine ganzen Phobien als rational begründetes Verhalten in einer irren Welt. Dass die Mehrfachbelastung, die enorm niedrige Kaufkraft der Löhne und der Leistungsdruck die Menschen zermürbt, steht zu keiner Zeit zur Debatte. Dass es am einfachsten ist, die Schwächsten einer Gesellschaft mit den Projektionen der ubiquitären Ängsten der Mittelschicht zu belästigen, ist Journalisten auch nicht eingefallen. Also bläst man in das Horn, das Sarrazin den Herren und Damen Qualitäts-Informationsfiltern hinstellt. Damit stellt man dann eine kognitive Konsonanz im Volk her. Und mit der ewig schmerzenden Dissonanz mit dem rationalen aufgeklärten Umfeld der rhetorisch geschulten und souveränen Journalisten, Lehrer, Politiker und anderen Menschen des öffentlichen Lebens ist es vorbei. Der Mob wird zum thinktank.

Irgendeine Angst ist fast immer da (wovon sonst leben die Versicherungen), wenn sogar die Medien das sagen, dann muss die Angst von dem Fremden an sich her kommen. Wie sollte sie auch von den inneren Antrieben herkommen, die man aus Gründen der sozialen Masken jahrelang verdrängt hat? Das innnere Kind, der Freiheitswille, der Wunsch aus dem Alltagstrott ausbzubrechen, der stille Haß auf den Ehepartner, die Unlust am Job – für all das müssen jetzt die Fremden gerade stehen.

Endlich sagt mal einer, wie es wirklich ist. Und an genau dieser Stelle zerfällt das gesamte Kartenhaus des herrschaftsfreien Diskurses von Herrn Habermas. Denn das Caféhaus ist aufgeklärt und spiegelt sich nur seine Sattheit auf dem Boden der hart arbeitenden Malocher. Wenn aber Einer diese heiligen Räume betritt und deren Ängste in ein rationales Kleid einnäht mithilfe der Statistik, die aus Blut und Scheiße Wahrheit zaubern kann, dann ist der Diskurs auf einmal zu einer Satire seiner selbst verkommen. Denn die Grundlage der Herrschaftsfreiheit lag in einem unausgesprochenen, kaum Egalitarismus der Bildungsbürger untereinander, einer mentalen Apartheid qua Schulbildung. Dieser Zwang liegt nicht auf so einem Herrn. Er ist vogelfrei, und er weiß das. Deshalb schürt er die sowieso vorhanden Ressentiments, die auf der Basis von Unterlassung gedeihen konnten. Unterlassung in den Schulen, in den Amtsstuben, in den Personalbüros, in den Vereinen, in den Parteien und in der Regierungsarbeit ganzer Dekaden von Politikern.

Wer das verstehen will, der möge sich noch einmal Elias Canettis Hauptwerk „Masse und Macht“ aufmerksam ansehen.

  ist seit 1999 als Freier Autor und Freier Journalist tätig für nationale und internationale Zeitungen und Magazine, Online-Publikationen sowie Radio- und TV-Sender. (Redaktionsleiter Netzpiloten.de von 2009 bis 2012)


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