Die massenmedialen Gatekeeper werden durch die Zersplitterung der Netzöffentlichkeit vom Thron gestoßen und es wächst die Ratlosigkeit, wie dieses Vakuum sinnvoll gefüllt werden kann. Die Türwächter konnten früher entscheiden, was in die Öffentlichkeit weiterbefördert und was zurückgehalten wird. „Jede Zeitung, wenn sie den Leser erreicht, ist das Ergebnis einer ganzen Serie von Selektionen“, so der Medienkritiker Walter Lippmann in seinem Buch „Public Opinion“, erschienen 1922 (!).
Die Auswahlkriterien der Gatekeeper erzeugten bewusst oder unbewusst eine Vereinheitlichung der Berichterstattung und eine gewisse Berechenbarkeit. Diese Deutungshoheit zerbröselt mit den Möglichkeiten des Netzes, eigene Öffentlichkeiten zu erzeugen. Die Mediennutzer sind keine neutralen ‚Transmissionsriemen‘ für journalistische Produkte, sondern liefern ihrem Publikum auch individuelle Schemata für die Auslegung der Beiträge. Das war allerdings schon in analogen Zeiten so. Nur beschränkte sich die Multiplikator-Funktion auf Arbeitskollegen, Familie und Freunde.
Reichweite der persönlichen Öffentlichkeiten steigt
In den persönlichen Öffentlichkeiten der Netzwerke ist die Reichweite größer. Das von der Demoskopin Noelle-Neumann beobachtete „doppelte Meinungsklima“ – also das Auseinanderdriften von Bevölkerungsmeinung und Medientenor – kommt immer häufiger vor. „Die Dynamik in sozialen Netzwerken ist nicht so sehr geprägt von tradierten Hierarchien und Jahrzehnte alten Rollenmustern, sondern von den kurzfristig aufsummierten Handlungen vieler Menschen“, so der Wiener Kommunikationsforscher Axel Maireder.
Die Potenziale, Deutungsmacht zu erlangen, sind sehr viel breiter verteilt als früher, nicht nur auf klassische Öffentlichkeitsberufe wie Journalisten und Politiker. Eigentlich das perfekte Szenario, um die emanzipativen Utopien der Schriftsteller Bertolt Brecht und Hans-Magnus Enzensberger mit Leben zu füllen.
Der Rundfunk wäre nach Meinung von Brecht der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn auch in Beziehung zu setzen. Der Rundfunk müsste demnach aus dem Lieferantentum herausgehen und den Hörer als Lieferanten organisieren. Seine Gedanken brachte Brecht zwischen 1927 und 1932 zu Papier und sie bezogen sich natürlich „nur“ auf den Hörfunk. Er dachte an direkte Interaktion mittels Radio über ein funkbasiertes Telefonkonferenzsystem, das die Enträumlichung der Kommunikation möglich machen sollte und zwar live. Visionäre Gedanken in einer Zeit, wo man über Jedermann-Technologie für den Rundfunk noch nicht einmal in Ansätzen verfügte.
Aber selbst im Jahr 1970, als Enzensberger seinen „Baukasten zu einer Theorie der Medien“ entwickelte, war man noch weit entfernt von den Bedingungen, die wir heute vorfinden. Wie auch Brecht fordert er, dass die Distributionsapparate in Kommunikationsapparate umgewandelt werden. Jeder sollte die Möglichkeit haben, sich ungehindert zu informieren und auszutauschen. Und das gehe nur, wenn man die Trennung zwischen Produzenten und Rezipienten überwindet.
Wenn man sich anschaut, welchen Aufwand diverse TV-Piratensender in den 70er Jahren mit simpler Videorekorder-Technik treiben mussten, um über „Open Channel“ einige Häuser im eigenen Stadtviertel erreichen zu können, wird man den Unterschied zu den Optionen von Diensten des Social Webs schnell erkennen – für Audio, Video und für die verschriftete Kommunikation. Damals reichte der Radius nur bis zu regionalen Initiativen, Protestaktionen und Nachbarschaftsfesten. Heute ist beides möglich: Hyperlokale Formate, und Formate mit internationaler Ausrichtung.
Reaktionäre entdecken die Jedermann-Medien
Mobil und stationär sind die Möglichkeiten zum Senden und Empfangen nahezu unbegrenzt. Eine emanzipatorische und aufgeklärte Öffentlichkeit war nicht nur das Ziel von Brecht und Enzensberger. Nun erleben wir die Okkupation der Jedermann-Medien durch reaktionäre, nationalistische und autoritäre Kräfte – wir erleben nicht nur Gegenteil-Tage, sondern eine Gegenteil-Epoche: „Herr, die Not ist groß! Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los“, so heißt es in der Ballade des Zauberlehrlings aus der Feder von Goethe. Ähnlich ratlos reagieren die Medienprofis auf die veränderte Gemengelage neuer Öffentlichkeiten. In der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland dominierte eine eher linke kritische Öffentlichkeit. Angefangen bei der Gruppe 47, der APO-Bewegung bis zur Friedens- und Ökologie-Szene. „Sich gegen eine rechte Öffentlichkeit zu positionieren, stand gar nicht zur Debatte“, so Stephan Porombka, Professor für Texttheorie und Textgestaltung an der UdK Berlin.
Die Medien seien dazu da, die Macht zu beobachten, zu kritisieren, einen öffentlichen Diskurs aufzubauen, möglichst viele Stimmen zu beteiligen und damit das politische Geschäft durch Beobachtung zu beflügeln. „Jetzt hat sich das völlig geändert. Wir erleben das erste Mal das Phänomen einer rechten Öffentlichkeit und die hat zu tun mit den niedrigen Eingangsschwellen des Social Webs“, erläutert Porombka im ichsagmal.com-Gespräch. Fest steht: Die Hürden der kritischen und intellektuellen Öffentlichkeit waren früher viel höher.
Wie die Utopien des Social Webs gekapert wurden – Gespräch mit Stephan Porombka
Posted by Gunnar Sohn on Dienstag, 30. Mai 2017
Ringen um die kulturelle Hegemonie
„Jetzt gibt es die Möglichkeit, in öffentliche Diskurse einzusteigen und mit kleinsten Beiträgen den größten Effekt zu erzielen und Streit vom Zaun zu brechen.“ Eine plurale und offene Gesellschaft bietet die Werkzeuge, um geschlossene, autokratische und nationalistische Verhältnisse hervorzubringen. Es gehen nach Auffassung von Porombka eine Menge Utopien den Bach runter oder werden gar von rechten Bewegungen okkupiert. Begriffe und Ideen werden von rechts besetzt, um kulturelle Hegemonie zu erlangen. „Im politischen Diskurs müssen wir diese Begriffe wieder feiner schleifen und auf ihre Potenziale überprüfen. Wir dürfen sie nicht als folgenlose Buzzwords benutzen, sondern müssen sie inhaltlich neu justieren“, fordert der UdK-Wissenschaftler. Wie kann man verhindern, dass man zum Lautsprecher von rückwärtsgewandten Kräften degradiert wird?
Relativismus stärkt die Feinde der Demokratie
Folgt man dem amerikanischen Philosophen Paul Boghossian, hat der konstruktivistische Relativismus den populistischen Trittbrettfahrern die Erlangung der Diskurshoheit erleichtert. Die Protagonisten dieser Denkschule, die sich in fast allen Wissenschaftsdisziplinen und in Medien ausbreitet, werden mit ihren eigenen Waffen geschlagen. „Aus dem Werkzeug der Befreiung wurde ein Werkzeug der ‚Alt Right’“, sagt Boghossian im Interview mit der Zeitschrift „Hohe Luft“.
Der Relativismus sage ja, jede Überzeugung ist gleich richtig und wichtig. Aber man müsse doch fragen, ob man erwiesenermaßen falschen Überzeugungen wie dem Kreationismus wirklich Sendezeit geben sollte. „Mich persönlich berührt das, wenn es um den Völkermord an den Armeniern geht, weil meine Familie ihn überlebt hat. Aber die Türkei bestreitet ihn. Und obwohl die Beweise erdrückend sind, heißt es im Fernsehen ‚einerseits, andererseits’“, so Boghossian. Man könnte es auch unter die ironische Überschrift stellen: Gesellschaft, die alle Wahrheit für relativ erklärt hat, ist plötzlich besorgt über Fake News.
Man müsse sich stärker an den Fakten ausrichten und über das Richtige und Falsche hart ringen. Es gibt Tatsachen, an denen sich jeder messen lassen muss. Gerade das ist die Essenz des Pluralismus. Das Notiz-Amt sieht hier Nachholbedarf. Wenn wir beispielsweise mehrheitlich davon überzeugt sind, dass die Mütter und Väter mit dem Grundgesetz eine gute und robuste Verfassung (!) im Bonner Museum König erarbeitet und beschlossen haben, dann sollten wir das in aller Deutlichkeit sagen und uns im Diskurs nicht im Negieren der gegnerischen Positionen verlieren.
Image (adapted) „Journalism“ by John Mark Kuznietsov (CC0 Public Domain)
Artikel per E-Mail verschicken
Schlagwörter: Brecht, Diskurs, Enzensberger, Fake News, Medien, medienkritik, mobil, netzwerke, Öffentlichkeit, rundfunk, social web, utopien