Jetzt, da die schreckliche Tat ein Jahr alt ist, schließen sie wieder die Reihen, die wackeren Lordsiegelbewahrer der lupenreinen Demokratien: Wir sind noch immer offen. Unsere Gesellschaft ist verletzlich, aber wir kennen keine Tabus. Und weil das so ist, schleichen auch schon wieder die Erklärbären der Normalität durch die öffentlichen Medien.
Dass die Medien seit neuestem sozial sind, muss ja noch bewiesen werden, denn sozial ist dem Wortsinn her eher etwas Gegenseitiges. Und wer die Welt erklärt, der erwartet selten eine andere Weltsicht auf dasselbe Problem. Und das läßt sich leider auch so selten finden. Denn im Ausholen über all die semantischen Untiefen in Breiviks Manifest (wer mag ein solches jemals noch erstellen) oder in seinem Lebenslauf, verbergen sich gern systemische Methoden, die gern wiederholt werden, um sich oder der Umwelt zu zeigen, dass man sie anwenden kann. Aber das Leben ist keine Transferleistung. Erst recht nicht solch eine Bluttat niederster Niedertracht.
Und so finden wir gern die Positionen der offenen Gesellschaft in allen Zeitungen und Zeitschriften: die Liebe und die Toleranz genauso wie Gerechtigkeit und das Aufeinanderzugehen. Leise Zweifel sind nicht ganz unangebracht. Denn diese Werte, die nun alle Europäer plötzlich wie selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen, gehen leicht von den Lippen, wenn man so ein Monster mit narzisstischem und paranoidem Persönlichkeitstil betrachtet. Aber gibt es all das nicht auch in unserem Alltag? Hat er das nicht exakt da her? Wie leicht ist es für uns alle angesichts von Mißmut, Unglück, Pech und enttäuschter Hoffnung, den neuerdings als negativ bewerteten dunklen Kern zu betrachten, der in den seelischen Tabuzonen von sehr vielen Mitmenschen lebt. Und da ist schon wieder das alte Problem der Wissenschaft. Ob in dem Charakter oder den Lebensumständen oder in beidem verortet, die Trennung von Subjekt und Objekt erscheint immer mehr eine beliebige zu sein. Dort der böse Attentäter hier der nur manchmal rassistisch veranlagte Nachbar, der schon mal auf die „dunkelhaarigen Schmarotzer“ schimpft.
Ein Jahr nach dem Attentat von Oslo und Ütöya hat sich genauso viel oder wenig getan wie nach den Monaten und Jahren als sich die Wut der neuen Bundesländer gegenüber der Integrationspolitik entlud (Hoyerwerda). Die blühenden Landschaften eines Helmut Kohl hatten ein übriges getan und die Tatsache, dass jeder selbst seines Glückes Schmied sei, hatte vielen die Idee verunmöglicht, in den reichen Westen zu gehen. Es sind die glücklichen Lebensumstände plus Fleiß und Bauernschläue, die Wohlstand erzeugen. Dass kann jeder in einem Schwellenland bezeugen. Denn dort basiert der schnell wachsende Reichtum auf einer enormen Schere zwischen Arm und Reich. Und wir im Westen arbeiten auch auf diese Schere zu. Unsere Perspektive ist die, ein Schwellenland zu werden. Amerika hat das in weiten Teilen des Landes erreicht.
Warum Amokläufer fast immer aus der Mittelschicht kommen? Nun, es wäre einen zweiten und dritten Gedanken wert, dass öffentlich zu diskutieren. Ob es dabei besonders sinnvoll ist, sich Metageschichten wie die Religion, Rasse oder den Kulturkampf auszusuchen? Kann sein, dass es deutlich profaner ist. Dann würden die großen Erklär-Grizzlies etwas oder jemandem Vorschub leisten, was ihnen nicht unbedingt gefällt. Aber das ist eine andere Verschwörungstheorie mit dem seichten Titel: Eure Armut kotzt mich an. Das wäre dann schon wieder Marxismus. Frau Wagenknecht, übernehmen Sie…?
Artikel per E-Mail verschicken
Schlagwörter: Amok, Breivik, Meinungen, Norwegen, Soziale Medien, tv, web, Zeitungen