Erst marxistisch, dann daneben. Der Publizist Peter Gente hielt sich nicht an die Regeln – und schuf so ein erfrischend gut gelauntes Lebenswerk. Vor rund 45 Jahren wurde in Berlin der Merve-Verlag gegründet – und galt nach anfänglichen marxistischen Ausflügen als publizistische Zentrale von Postmoderne und Dekonstruktion. So bilanzierte der entkollektivierte Merve-Gründer Peter Gente Ende der 1970er Jahre, dass man an der Dialektik irre werde. Das Verlags-Kollektiv zerbröselte irgendwann. Unter dem Deckmantel des „proletarischen Erfahrungsinteresses“ flüchteten die Genossen ins partikulare Private: Bluesmusik, Nietzschelektüre, Malen, Biokost und Esoterikliteratur. Peter Gente entdeckte das Nachtleben.
Die Verlockungen der Kneipe
Seine Unlust am Diskutieren soll in dem Maß gewachsen sein, wie er den Lockungen der West-Berliner Kneipenlandschaft erlag, schreibt Philipp Felsch in einem Beitrag für die „Zeitschrift für Ideengeschichte” (Schwerpunkt: Die Insel West-Berlin).
Der hausmeisterliche universitäre Diskurs stand jedenfalls nicht mehr auf der Agenda des Verlages und bescherte uns doch wahnsinnig interessante Bücher. Aus der Internationalen Marxistischen Diskussion wurde ein Internationaler Merve-Diskurs. Man entdeckte die Kunstszene und die Neuen Wilden, die sich im Schöneberger „Dschungel” tummelten: Markus Oehlen, Rainer Fetting, Martin Kippenberger. Entstanden sind eine Reihe von Künstlerbüchern: Godard, Heiner Müller, Minus Delta t, Blixa Bargeld und Werke über ästhetische Theorie: Roland Barthes’ Cy Twombly, Böhringers Begriffsfelder oder Hosokawas Walkman-Effekt. Dann natürlich die Merve-Champions Foucault, Virilio, Baudrillard oder Deleuze.
Entdeckung der Systemtheorie
Später entdeckte der Berliner Verlag die Systemtheorie. Lesenswert der Luhmann-Band „Archmides und wir”. Nachgeholfen hatte der Luhmann-Schüler Dirk Baecker mit einem Brief an Gente:
Heute würde ich Ihnen gerne zwei Buchprojekte vorstellen, die sehr gut in Ihre Tradition innovativen Traditionsverzichts passen würden. Im ersten Projekt handelt es sich um einen kleinen Band mit den gesammelten Interviews von Niklas Luhmann. Sie haben sicherlich mitverfolgt, zum Beispiel in der FR und in der taz, dass Luhmann einen sehr kühlen und ironischen, manchmal bissigen und in der Selbstkommentierung an ‚Monsieur Teste’ erinnernden Interviewstil entwickelt hat, der diesem Genre wieder etwas literarischen Schwung verleiht. Allesamt immer etwas launige, auf Tagesgeschehen und – eindrücke bezogene Kommentare, können sie doch auch als Einführungen in den spezifisch luhmannschen Theoriestil dienen.
So der Auszug des Becker-Schreiben, abgedruckt im neuen und äußerst lesenswerten Felsch-Band „Der lange Sommer der Theorie – Geschichte einer Revolte 1960 – 1990“, erschienen im C.H.Beck-Verlag. Baecker und Georg Stanitzek liefern in der Einleitung des Luhmann-Buches noch eine kleine Epistemologie des Interviews. So könne man von dem Systemtheoretiker lernen, dass Kommunikation immer auch eine Operation der Beobachtung füreinander unerreichbarer Köpfe ist.
In kaum einer Gesprächsform werde dies anschaulicher als im Interview. Es wird nicht der Versuch unternommen, Köpfe kurzzuschließen. Die Gesprächsform lebt von der Zufälligkeit der Fragen, was allerdings durch Autorisierungen oder vorgefertigte Skripte häufig genug in eine aseptische und damit ungenießbare Metamorphose kippt.
Diskurse ohne Volkerziehung
Zur Merve-Kultur zählte immer die Lust am Diskurs und nicht die Volkserziehung. Das brachte Michel de Certeau, ein weiterer sehr wichtiger Autor des Berliner Verlags, trefflich zum Ausdruck: Wer die Masse zu repräsentieren vorgebe, kämpfe in Wirklichkeit darum, sie zu erziehen, zu disziplinieren und zu gruppieren.
Peter Gente und Heidi Paris kultivierten ihre gute Laune: „Wir wollen ein kleiner Verlag, unscheinbar und daneben sein, und das macht irre Spaß.“ Sie nutzten das Kontrollvakuum und erfreuten sich an der Partisanenexistenz ihrer Leser. Das wird auch nach dem Tod von Gente und Paris weiterleben. Zeitlose Bände mit hoher Diskurs-Dynamik auf billigem Papier. Paperbacks, bei denen man Sätze gegen den Strich lesen kann. Schlüsse aus den Texten ziehen von denen die Texte nichts wissen und einer Kunst des Lesens aus dem Geist der Respektlosigkeit frönen. Liebwerteste Gichtlinge sollten Merve-Bände lesen.
Dieser Artikel erschien zuerst auf TheEuropean.de
Image (adapted) „Outdoor Bu?cher“ by Robert Agthe (CC BY 2.0)
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