Mit dem urknall-artigen Erfolg von Pokémon Go hat Microsoft rein gar nichts zu tun. Dennoch dürfte sich auch der Software-Konzern über die Popularität des derzeit unvermeidlichsten aller Videospiele freuen. Auf einen Schlag kann die halbe Welt etwas mit dem Begriff Augmented Reality (AR) anfangen. Das beschert auch der AR-Datenbrille Microsoft HoloLens einen neuen Aufmerksamkeitsschub. Obwohl noch gar nicht im Handel erhältlich, gilt sie als Hoffnungsträger für eine neue Hardware- und Software-Kategorie, die die Arbeit am Computer revolutionieren könnte. In den Räumen von Trendone, einer Agentur für Innovationsberatung, konnte ich für die Netzpiloten eines der ersten Vorserien-Geräte in Europa testen.
Windows an der Zimmerwand: So funktioniert die HoloLens
Anders als bei den vollverschalten Headsets für Virtual Reality tauche ich mit der Microsoft HoloLens nicht vollständig in künstliche Welten ein. Stattdessen erweitern digitale Informationen meinen Blick auf die Umgebung durch die sichtdurchlässigen Bildschirme. Das ist das Prinzip von Augmented Reality.
Das Besondere an der HoloLens: Statt Text, Zahlen oder Icons flach einzublenden, projiziert sie 3D-Objekte ins Sichtfeld. Dadurch erhalte ich den Eindruck, vor mir im Raum ein zum Greifen nahes Windows-Startmenü, Auto-Modell oder Alien-Monster zu sehen. Dazu scannen Kameras im HoloLens-Gehäuse den Raum und berechnen entsprechende Tiefeninformationen. Weil ich die Programmfenster und Gegenstände etwa an einer Wand oder einfach im Raum virtuell verankern kann, bleiben sie selbst dann an Ort und Stelle, wenn ich meinen Kopf hin- und wieder zurückdrehe.
Ein Smartphone oder einen Controller benötige ich nicht. Die gesamten Rechenkomponenten und Steuerungssensoren stecken im kreisrunden Kunststoffgehäuse, das ich über meiner Brille tragen und per Rändelrad an meine Kopfgröße anpassen kann. Bei der Microsoft HoloLens handelt es sich um einen vollständigen mobilen Computer mit angepasstem Windows 10. Daher ist sie auch etwas schwerer und unbequemer als VR-Headsets wie Oculus Rift – benötigt aber keine Kabelverbindung zu einem PC für den Betrieb.
Bedienen kann ich die AR-Brille mit Handgesten, Sprachkommandos oder indem ich mit dem Kopf einen virtuellen Cursor platziere. Dies klappt praktisch auf Anhieb. Nur das „AirTap“-Kommando muss ich ein paar Mal üben. Ich brauche es, um anstelle der Enter-Taste auf einem Keyboard mit dem Krümmen des Zeigefingers eine Eingabe zu bestätigen.
Autos designen, Aliens jagen: Das kann die HoloLens
Ähnlich wie ein Windows-Computer ist die HoloLens für den universellen Einsatz zu Hause oder in Wirtschaft und Wissenschaft gedacht. In dieser frühen Phase dominieren die Profi-Anwendungen.
Luis Bollinger vom Start-up Holo-Light präsentiert eine App, mit der ich mir per Sprachbefehl die Lackfarbe und das Felgendesign eines im Raum schwebenden Audis aussuchen kann. Außerdem gehe ich auf eine unterrichtsreife Reise durch das Planetensystem und zoome mir die Himmelskörper so nah heran, wie ich mag.
Weitere vorgestellte Einsatzzwecke: Kücheneinrichter modellieren vor den Augen der Kunden Möbelstücke, Mediziner untersuchen 3D-Scans von Patienten, Industriedesigner veranschaulichen sich Prototypen in 360-Grad-Sicht, NASA-Forscher erkunden den Mars, ein Geschäftsmann skypt mit seiner dreidimensionalisierten Tochter („Holoportation“) und vieles mehr.
Eine Kostprobe davon, was Konsumenten erwartet, nehme ich auch: Eine Spiele-Demo lässt virtuelle Spinnen-Roboter aus der echten Wand krabbeln, die ich mit einer Armbewegung nach Herzenslust in den Alien-Himmel schieße. Die beiden integrierten Lautsprecher sorgen für stimmungsvollen Sound, bei dem ich die Richtung der Geräusche gut lokalisieren kann. Das macht in höchstem Maße Spaß.
Es sieht allerdings auch höchst befremdlich aus, wenn Menschen mit der skurrilen Kopfbekleidung auf einen unbekannten Punkt in die Ferne blicken und während dessen gestikulierend kryptische Befehle murmeln. Prinzipiell kann niemand sehen, was ich sehe, wenn ich die AR-Brille benutze. Lediglich zu Präsentationszwecken wird das Bild während meines Tests kabellos auf eine Leinwand projiziert.
Sollte die HoloLens die Marktreife erblicken, dürfte sie in mehrfacher Hinsicht die Arbeitskultur in Büros, Werkhallen und Laboren erheblich verändern. Neuer Zündstoff für Kulturpessimisten, die sich bereits heute über Pokémon-jagende Smombies ereifern.
Realitätscheck: Die Marktreife ist noch nicht in Sicht
Von der Marktreife ist die von mir getestete Entwickler-Version noch weit entfernt. Das Sichtfeld ist derzeit viel zu klein. Bereits wenn ich den Blick beispielsweise leicht nach links wende, ist das rechte Ende eines Objekts abgeschnitten. Zudem ist die Projektionsweise sehr raumgreifend. Ich muss ein bis zwei Meter von einem Objekt entfernt stehen, sonst ragt es über die Ränder der Brillengläser hinaus. Das irritiert und schmälert den Realitätseindruck.
Damit die Projektionen kontrastreich genug zu sehen sind, erfolgt mein Test in einem schummrig beleuchteten Raum mit heruntergelassenen Rollos. Für den Einsatz draußen oder in sonnendurchfluteten Büros taugt die HoloLens eher noch nichts. Einen üblichen Acht-Stunden-Arbeitstag hält die HoloLens ohnehin nicht mal zur Hälfte durch. Laut Luis Bollinger von Holo-Light muss der 16.500 mAh fassende Akku nach maximal drei Stunden an die Steckdose.
Ein Ausblick
Ob und wann Microsoft die aufgezählten Hürden beseitigt, ist noch nicht abzusehen. Ein Marktstart steht nicht fest – das Unternehmen hält sich dazu bedeckt. Das ist ihm jedoch auch nicht zu verdenken, nachdem Google Glass nach großem Tamtam plötzlich nicht mehr weiterentwickelt wurde.
Kleinere Wettbewerber geben hingegen Anlass zum Optimismus. Epson hat inzwischen die dritte Generation der „Moverio“-Reihe präsentiert. Sehr hoch gehandelt wird zudem das AR-Headset Meta 2, das aber genauso wie die HoloLens vorerst nur für Entwickler verfügbar ist. Das Softwarestudio Holo-Light rechnet mit einer Markteinführung der HoloLens frühestens in 2017, eher 2018 aus.
Fazit
Der Test der Vorserien-Version der Microsoft HoloLens zeigt noch kritische Schwächen auf, macht aber auch Lust auf mehr. Das Prinzip überzeugt. Bei der Computerarbeit die Hände frei zu haben, ist verlockend. Die bedrückende Abschottung von VR-Brillen entfällt.
Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass Augmented Reality die Arbeitswelt in sehr viel größerem Maße beeinflussen wird als Virtual Reality. Mit 3D-Projektionen wie bei der HoloLens zu interagieren, erscheint mir zudem deutlich natürlicher als sich lediglich Informationen im Sichtfeld einblenden zu lassen. Wie praktisch wäre es für Kreativ- und Wissensarbeiter, ein physisches Multi-Monitor-Setup auf dem Schreibtisch durch virtuelle Monitore zu ersetzen!
Wünschenswert wäre aber ein Wearable, das herkömmlicher Kleidung ähnlicher sieht, so wie es sich das Start-up Laforge Optical vorstellt.
Images by Berti Kolbow-Lehradt
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