Der digitale Wandel wird von der Netzgemeinde betrieben. Wertschätzung erfährt diese dafür nicht. Stattdessen belächelt das krawattentragende Establishment die Nerds und zerstört so den Barcamp-Geist. Ein Beitrag zur #KölnerBarcampKontroverse. Manchmal gibt es Diskussionen und Lebenssituationen, die erzeugen einen Heureka-Moment und man weiß, wo man steht und in welche Richtung es weiter gehen soll. So war es beim fünften Netzökonomie-Campus mit Käsekuchen in Köln, den Mister Unternehmer-Plattform Winfried Felser perfekt organisiert hat. Auch seine Backkünste konnten überzeugen.
In unserem offenen Format, an dem jeder Interessierte teilnehmen kann – real und virtuell über eine Liveschalte via Hangout on Air – steht die Disputation im Vordergrund. Absprachen, Kontrolle der Gespräche, Sprachregelungen oder sonstige aseptische Vorkehrungen kommen für uns nicht in Frage. Da gibt es ausreichend Plastik-Frontal-Formate, die besonders in Wirtschaftskreisen dominieren.
Wir leben die Barcamp-Kultur und setzen auf Überraschungen. Das Schwerpunktthema kann der jeweilige Gastgeber oder die Gastgeberin auswählen und in einem Eingangsstatement vorstellen. Einzige Bedingung: Der Käsekuchen muss in Eigenregie gebacken werden.
Wenn Blindfisch über Barcamps redet
Beim Netzökonomie-Campus am vergangenen Sonntag gab es schon in den ersten Minuten eine Bestätigung des Veranstaltungstitels: „Doppelter Hochmut kommt vor dem doppelten Fall: Dialogunfähigkeit zwischen Netzszene und Wirtschaft“.
Barcamps seien esoterischer Quatsch, Netzgemeinde oder Netzaktivisten klingen irgendwie nach Sekte. Alles dummes Zeug. Es gehe darum, die alte Wirtschaft von der Digitalisierung zu überzeugen und Brücken zu bauen. Das waren die ersten Statements, die meine Streitlust steigerten. Ich frage mich, wo jener Protagonist des digitalen Wandels steht, der etwas flapsig auf die Netzbewegung runterschaut? Barcamps jemals besucht? Fehlanzeige. re:publica in den vergangenen Jahren in Berlin erlebt: Fehlanzeige. Die eigenen Positionen mal in offenen Formaten ohne Headset, ohne Powerpoint-Orgien und ohne Berieselungsrhetorik ausprobiert? Wohl eher nicht.
Wie kann jemand jenseits von Facebook-Monitoring-Schwafeleien Brücken in die alte Wirtschaftswelt bauen, der die Netzszene als irrelevant und kindisch wertet? Was den Unternehmern häufig vorgeführt wird, ist nichts anderes als digitales Tschakka-Gebrüll in alter Establishment-Denkweise.
Kein Respekt vor den Leistungen der Nerds
Der blinde Fleck in der Digitalisierung ist also auch dort zu verorten, wo inflationär Online-Marketing-Blabla abgesondert wird. Die liebwertesten Gichtlinge in Wirtschaft und Politik haben es sich wohl zur Aufgabe gemacht, die Graswurzel-Vorarbeiten der idealistischen Nerds abzusaugen und ihre Klüngel-Hinterzimmer-Praktiken nur mit etwas digitalem Zuckerguss zu überstreichen, um im abgeschotteten Einweg-Kommunikationsmodus zur Tagesordnung überzugehen.
Das brachte beim Käsekuchen-Diskurs Startup-Unternehmer Marcus Jacobs zum Ausdruck: Der Ursprung für viele regionale Initiativen wie die Kölner Internetwoche oder das IHK-Format „Digital Cologne“ sei durch ein Barcamp im Jahre 2009 im Rathaus der Domstadt entstanden. In diesen Veranstaltungen opfern viele Enthusiasten ihre Freizeit und entwickeln Netzideen für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, die von den etablierten Kräften in der Vergangenheit belächelt wurden und jetzt adaptiert werden.
Dann sollte man vor diesen Leistungen mehr Respekt zeigen! In den USA sind es auch nerdige Idealisten, die digitale Ideen hervorbringen. Sie werden allerdings von der Krawattenfraktion nicht überfahren, sondern als Ikonen der Netzökonomie verehrt und gefeiert.
IT-Gipfel-Unverbindlichkeiten statt Austin-Geist
Schräge und wilde Veranstaltungsformate wie die SXSW in Austin haben schon viele neue Netzplattformen, Apps und Geschäftsmodelle aus der Taufe gehoben. Auch das ist ein großer kultureller Unterschied zu teutonischen Apparatschick-Treffen wie dem Altherren-Stelldichein namens IT-Gipfel. Die Spitzenfunktionäre von Bitkom und Co. ergötzen sich an der Möglichkeit, einmal im Jahr der Kanzlerin am Rockzipfel zu hängen, um in schöner Regelmäßigkeit mit einer Suada von Unverbindlichkeiten abgespeist zu werden. Spiegel-Kolumnist Sascha Lobo hat sich der Mühe unterzogen, die digitalen Merkel-Worthülsen aufzulisten.
Anfang 2008 wollte die Bundesregierung Merkel das Problem fehlender Breitbandanschlüsse „binnen 12 Monaten lösen“. 2009 fabulierte Merkel: „Wir haben uns sehr ambitionierte Ziele gesteckt, nämlich den Zugang zum Breitband erst einmal in der schmalen Variante von einem Megabit…“. Außerdem versprach die Regierungschefin drei Viertel der Haushalte 50 Mbit pro Sekunde bis 2014, „und zwar mindestens“ . Ein Jahr später bekräftigte sie beide Zahlen. „Geklappt hat es leider trotzdem nicht“, so Lobo.
Außendruck der Graswurzel-Bewegungen muss zunehmen
2011 wiederum galt 1 Mbit pro Sekunde als ein „ehrgeiziges Ziel“.
2012 machte Merkel einen Premiumscherz: ‚Wenn man jemandem mal Ruhe beibringen will, dann könnte man ihn in eine Ecke setzen, wo gerade mal ein Megabit pro Sekunde zur Verfügung steht.‘ Und doch erklärte noch 2013 die Bundesnetzagentur, ein Megabit pro Sekunde sei Breitband im Sinne der Bundesregierung. Kurz vor 2014 wurde bekannt, dass die im Koalitionsvertrag ursprünglich vorgesehene Summe von einer Milliarde Euro für den Breitbandausbau in letzter Minute gestrichen wurde
, erläutert Lobo. Und schon die veranschlagte Summe war nicht der Rede wert.
Vor diesem Hintergrund müsse nach Meinung von Lobo auch das Versprechen von „50 Mbit/s bis 20XX“ betrachtet werden. Es ist lächerlich. Entsprechend muss der Außendruck von Graswurzel-Bewegungen wie den Barcamps wachsen. Nur dann gibt es nicht nur Schaufensterreden, sondern digitale Tipping Points, die der frühere IBM-Cheftechnologe Gunter Dueck in Berlin forderte: Beim Barcamp Arbeiten 4.0.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf TheEuropean.
Image (adapted) „Me & My PowerBook“ by Brian Moore (CC BY-SA 2.0)
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Schlagwörter: barcamp, digitaler Wandel, digitalisierung, nerd, politik, wirtschaft
4 comments
Die Gesellschaft darf also nur zu den Bedingungen der Netzszene in das Digitale Zeitalter schreiten?
Wer zum Dialog aufruft, muss auch den darauf folgenden Kompromiss akzeptieren. Und das bedeutet eben auch Kravattenträger im Barcamp.
Andere Menschen auf einem Barcamp zu akzeptieren ist kein Kompromiss, den man als sogenannte Netzszene eingehen muss, das ist ein absolut normales Verhalten und wird von jedem erwartet. Und das ist genau der Punkt in Gunnar Sohns Artikel, den du auf eine Metapher reduzierst, der dir entgangen ist. Es geht darum, unabhängig von der Kleidung, dass die digitale Seite nicht diskreditiert wird, besonders wenn man quasi bei ihr auf einem Barcamp „zu Gast“ ist. Anstatt sich also mit einem nicht mehr zu rechtfertigenden Duktus von Überlegenheit dahin zu stellen und alles Digitale für nichtig zu erklären als sei es 1980, geht es darum, diesen den Wandel gestaltenden Menschen mit Respekt und Neugierde zu begegnen. Denn man kann voneinander lernen.
Die „Gichtlinge in Wirtschaft und Politik“, denen es nur darum geht, „ihre Klüngel-Hinterzimmer-Praktiken mit etwas digitalem Zuckerguss zu überstreichen, um im abgeschotteten Einweg-Kommunikationsmodus zur Tagesordnung überzugehen.“
Mimimi.
Wer den Dialog einfordert, sollte erst einmal auf Dialogmodus ein- und seine plumpe Kampf- und Vorurteilsrhetorik ausschalten.
Mimimi-Replik. Wer sich die #KölnerBarcampKontroverse in den netzökonomischen Live-Hangouts anschaut, wird erkennen, wie das Ganze im Dialogmodus entstanden ist. Aber Vadder Theresa ist herzlich eingeladen, mit mir in den Dialog einzusteigen. Live und direkt via Hangout on Air. Dann können wir die Küngel-Hinterzimmer vertiefen.