Die Autorin Nadia S. Zaboura hat eine kurze und sehr treffliche Einleitung für das neue Buch “Wie ich wurde, wer ich bin, und was wir einmal sein werden” (Lübbe-Verlag) des Dream-Teams vom Soziopod, dem sozialwissenschaftlichen Podcast von Patrick Breitenbach und Nils Köbel geschrieben: Wir könnten eine so schöne, sinnerfüllte und vernünftige Welt haben, wo sie doch vernetzter, informierter und selbstbestimmter denn je leben darf. Der Mensch sinnt laut Brecht nach freundlichen Formen des Zusammenlebens, erstrebt eine herrschaftsfreie Kommunikation, die nicht in der grauen Habermas-Theorie verharrt, sondern durchdrungen ist von Pluralität, Freiheit und Toleranz. “Doch unsere Zündschnur scheint kurz, unsere Geduld mit uns und mit anderen ein knappes Gut geworden”, so Zaboura.
Die zunehmende Komplexität und Beschleunigung sei leider ein ideales Spielfeld für Vereinfacher und Verführer. Sie hantieren mit simplen Antworten und stacheln zur Polarisierung an, um nicht komplexe Lösungen für komplexe Probleme anbieten zu müssen. Sie wollen schnelle Siege und provozieren Aufgeregtheiten, inszenieren Ad-hoc-Hysterien und betreiben verbale Brandbeschleunigung. Zaboura bezeichnet die preisgekrönten Podcast-Philosophen als Entschärfungskommando für soziale Sprengsätze.
Es gibt keine einzig wahre Wirklichkeit
Im Zwiegespräch dekonstruieren die beiden Autoren Klischees, Vorurteile und vermeintliche Wahrheiten. Sie geben Impulse für die Kunst der Argumentation und vermitteln dem Leser das Rüstzeug zur Selbstreflexion. Das ist ein schmerzlicher und anstrengender Prozess, wie der Autor der Notiz-Amt-Kolumne bestätigen kann. Die erste sehr fragmentarische Lektüre des frischen Werkes von Breitenbach und Köbel führte direkt zum Konstruktivismus. Patrick Breitenbach sieht ihn eher als eine Haltung und nicht als Weltanschauung:
Die Haltung, die ich hinter dem Konstruktivismus sehe, ist für mich eher ein permanentes Hinterfragen des Selbstverständlichen. Der Wirklichkeit oder, noch weiter, der Wahrheit. Das Hinterfragen setzt wiederum voraus, dass man erkannt, dass die Wirklichkeit nicht die einzig wahre Wirklichkeit ist, sondern jeder Mensch sich seine eigene Wirklichkeit konstruiert, also durch Sinneseindrücke, Bewertungen und Interpretationen zusammensetzt.
Hier und da gibt es einen Wirklichkeitskonsens. Dennoch nimmt jedes Subjekt die Welt anders wahr. Köbel vergleicht das mit dem Lichtkegel mehrerer Taschenlampen, die sich überschneiden und jede für sich einen eigenen Ausschnitt beleuchtet.
Rassismus ist eine Wahrnehmungsstörung
Bei aufgeladenen Themen offenbaren sich die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Interpretationen, ergänzt Breitenbach:
Für mich ist Rassismus so eine Art Wahrnehmungsstörung. Das heißt, der Rassist sieht bestimmte äußerliche Merkmale bei Menschen, und diese überstrahlen quasi das Individuum, das Subjekt, die Identität. Wenn also jemand mit rassistischen Vorurteilen einen anderen Menschen mit dunklerer Haut sieht, stellt sich ihm gar nicht mehr neutral die Frage, ob das jetzt ein Freund sein könnte. Allein aufgrund dieser äußeren Andersartigkeit macht es irgendwie Klick, und dieser Mensch ist von vornherein weniger wert als alle anderen.
Es zählen nur noch Stereotypen. “Der” Nordafrikaner, “der” Islamist, “der” Flüchtling, “der” Asylbewerber. Individualität verschwindet hinter einem Schleier von Vorurteilen. Es zählen Urteile, die nicht auf eigenen Begegnungen und eigenen Erfahrungen beruhen, sondern Erzählungen oder Narrative von anderen. Rassismus ist eine Konstruktion, die durch Bilder, Geschichten, Gerüchten, Sprache und bestimmte Begriffe entsteht. Der Mensch erschafft sich immer ein Abbild dessen, was er wahrnimmt. “Aber er kann niemals das Gesamte in aller Pracht und aus allen Perspektiven wahrnehmen, und er hat nur sehr begrenzte, wenn auch sehr vielfältige Mittel der Kommunikation, um das Wahrgenommene wieder nach außen auszudrücken”, so Breitenbach.
Erfahrungswissen aus erster Hand
Diese Zerrbilder kann man nur durch direkte Erfahrungen abbauen. Wenn sich ein rassistischer Jugendlicher bei einem langen Auslandsaufenthalt in ein einheimisches Mädchen verliebt, bricht jeder Rassismus zusammen. Die rassistische Konstruktion wird brüchig und man bekommt genügend Anregungen aus erster Hand, die bisherigen Zerrbilder zu überdenken.
“Also wenn ich die Grundhaltung besitze zu sagen, ‚Die Welt ist nicht so, wie sie scheint‘, schafft das überhaupt erst die Voraussetzung, um scheinbar selbstverständliche Dinge zu hinterfragen”, betont Breitenbach. Konstruktivismus in der Kombi mit Bildung ist für ihn ein großes Werkzeug, um jede Art von Vorurteilen zu knacken. Auch die maschinengesteuerten Reduzierungen der Wirklichkeit. Wir neigen dazu, Maschinen als intelligent, unbestechlich und neutral wahrzunehmen und vergessen dabei die Maschinisten, die Konstrukteure.
Nasenlose Maschinen dekonstruieren
Beim Thema Big Data und den zugrundeliegenden Algorithmen verdrängen wir die Programmierer, die nur winzige Teilwirklichkeiten und Gewichtungen in ihre Formeln packen. Erinnert sei an die Session “Wenn Menschen und Maschinen lügen” von Patrick Breitenbach und Brightone-Analyst Stefan Holtel auf der Next Economy Open in Bonn:
Software infiltriert heute jede halbwegs komplizierte Maschine. Das Universum kommunizierender Objekte expandiert weiter. Und damit werden unehrliche Menschen und korrupte Organisationen mehr denn je versucht sein, ihre Produkte nach eigenen Wünschen zu impfen. Nennen wir das einfach mal ‘Lügen zweiter Ordnung’. Und Benutzer können das nicht mehr erkennen. Denn leider wächst den Maschinen keine Nase. So wird Wahrheit oder Lüge plötzlich ein Schlüsselfaktor in der Mensch-Maschine-Interaktion. Und es taucht schlagartig die Frage auf, ob und wie man Maschinen ethisches Verhalten beibringen könnte. Ein sehr verzwicktes Problem. Und es führt zu Verwicklungen, für die wir heute noch nicht mal Denkfiguren haben. Es wird Zeit, die zu entdecken, erklärt Holtel.
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Anleitungen zum skeptischen Denken aus der Soziopod-Werkstatt von Breitenbach und Köbel könnten auch auf diesem Feld zur Anwendung kommen. Die Streifzüge durch den Garten der Philosophie in Buchform empfiehlt das Notiz-Amt zur Lektüre – besonders in Schulen.
Image „Mikrofon“ Fotocitizen [CC0] via pixabay
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Schlagwörter: breitenbach, digitalisierung, Holtel, Köbel, Philosophie, Podcast, Rassismus, Soziopod, technik, vernetzung