Harvard-Forscher David Weinberger legt ein profundes Buch vor über die digitale Republik der Buchstaben und die Auswirkungen auf unseren Umgang mit Wissen.
Wir brauchen mehr Fähigkeiten im Jiu-Jitsu, wenn es um die Informationsflut im Web geht. Denn laut Dr. Weinberger lehrt uns die asiatische Kampfkunst, in die permanenten Handkantenschläge der Millionen Informationen einzutauchen, um aus dem Datenstrom den eigenen Schwung zu entwickeln. Konsequent breitet er auf rund zweihundert Seiten seine Theorie aus, laut der wir zukünftig eine angstlose und offene Hinwendung zum Internet brauchen. Denn nur dort lauert all das Wissen, was wir für die Lösung unserer Probleme brauchen.
Bisher war für die meisten von uns das Wissen eine Art Stoppschild für unser Hirn. Erst wenn Fragen beantwortet wurden, kam unser Geist zur Ruhe. Damit soll es nun vorbei sein. Denn genau genommen war diese Art, Wissen zu nutzen schon vor dem Web zum Scheitern verurteilt. Wissen war immer begrenzt durch Regalplatz, eine strenge Auswahl an Mitgliedern eines Fachbereichs in einer Universität und nicht zuletzt durch die Bildung, also die akademischen Meriten. Hier geht der freundlich Harvard-Experte leider gar nicht auf die begrenzten mentalen Fähigkeiten einiger Zeitgenossen ein. Aus seiner Sicht sind alle potentiell schlau…
Weinberger ist sich der Tatsache bewusst, dass es eine umfassende Diskussion darüber gibt, ob das Gehirn nicht Schaden nimmt angesichts der permanent heranflutenden Informationen auf allen Kanälen. Das eigentliche Problem liegt jedoch aus seiner Sicht woanders. Früher glaubten wir, das Wissen wäre ein Spiegel der Welt, sozusagen ein Einblick in den Bauplan Gottes. Seit der modernen Wissenschaftstheorie ist uns jedoch klar geworden, dass Wissen eingebettet ist in Machtverhältnisse, historische Denktraditionen und ganze Weltbilder. Wer einer Einsicht widerspricht, der tut das meist aus einem fremden Kontext. Genau darüber müssen wir reden – auch und vor allem über die Grenzen der akademischen Fachbereiche hinweg. Der zugeknöpfte Elfenbeinturm der Wissenschaften täte gut daran, sich für externe Ideen zu öffnen. Dazu braucht man aber eine niedrigschwellige und demokratische Plattform, um die Umstände und Hintergründe von Erkenntnissen besser einschätzen zu können. Und diese Funktionen bietet das weltweite Netz. Es ist zwar fern davon, perfekt angepasst zu sein an unseren Wissensdurst, aber es ist ein Rahmen, der mehr Austausch ermöglicht, als teure Wissenschaftspublikationen oder dicke Bücher, die im stillen Kämmerlein entstanden sind.
Ist Wissen menschlicher geworden?
Das vernetzte Wissen ist weniger gesichert, aber dafür ist es menschlicher und damit zugänglicher. Dieser Wertewandel schlägt sich nieder in einem neuen Kriterium für die Qualität von Wissen. Wo man früher von etwas sprach, dass gewusst werden muss, sollte man nun davon reden, was es wert ist, mit anderen geteilt zu werden. Aus der Stopfunktion des Wissens, bei der die Denktätigkeit zum Ende kommt, ist nun ein Anknüpfungspunkt geworden. Im Netz wird mit anderen diskutiert, Dinge werden hinterfragt und neue Fakten gesucht. Wir sollten dazu unsere Strategie ändern, wie wir mit Wissen umgehen. Wissen durch Reduktion wird ersetzt durch Wissen, das integriert wird in breitere Kontexte.
Der Siegeszug der modernen Wissenschaften begann laut Weinberger vor allem rund um Sozialpolitik. Das Elend der Arbeiter in der industrialisierten Gesellschaft wurde faktenbasiert begründet. Zur gleichen Zeit begann der Siegeszug des Wissens, dass Menschen dienlich ist und nicht bloß spekulativ dem geheimen Bauplan eines Schöpfers auf die Schliche kommen will. Dann jedoch übernahmen die Fakten zunehmend das Steuer. Wir dümpeln seither in einem Zustand, der permanenten Überversorgung mit Daten aller Art. Das beste Mittel gegen dieses Überangebot sieht der Senior Researcher am Harvard Berkman Center for Internet & Society in den Filtern, die uns Netzwerke aus Menschen zur Verfügung stellen. Denn die Menschen filtern nicht das überflüssige aus, sondern leiten das Wesentliche weiter an Bekannte, Freunde und Kollegen, denen man einen besseren Gebrauch der Daten unterstellt oder von denen man weiß, dass sie genau diese Inhalte brauchen.
Die überbordende Fülle an Fakten spiegelt dabei nicht Gottes Plan sondern die Komplexität der Welt wieder. Es ist gar nicht möglich, grundlegende Gesetze zu ergründen, ohne vorher die Erscheinungen des Gegebenen ausführlich und umfänglich zu studieren. Der schiere Überfluss an Daten ist dabei ein Gradmesser für die Gefahr, an Information irre zu werden. Wer in der Prä-Internet-Ära in einer großen Bibliothek war, dem ist auch schon damals bewusst geworden, wie gering sein Wissen jemals sein konnte. Und einfach drauflos zu lesen hilft auch heute noch sehr wenig angesichts des Wissenswerten. Daher verbreitet Weinberger die Einsicht, dass ein kluger Umgang mit dem Netz darin liege, sich mit anderen Menschen zu vernetzen. Er hält viel davon, dabei darauf zu achten, auch und gerade mit Menschen in Kontakt zu kommen, die divergierende Ansichten und fremde Weltbilder vertreten. Das gelingt nirgendwo besser als im Internet. Denn anders als Bücher und Zeitungen ist dieses Medium nicht nur in der Lage unvorstellbare Mengen an Daten und Fakten zu horten, es kann auch unzählige Menschen verbinden. Zu diesem Zweck möchte Weinberger die Streitkultur in konstruktivere Bahnen lenken. Digitale Medienkompetenz liegt folglich weniger in einem Fokus auf das Digitale als viel mehr in dem Bewusstsein, dass wir direkt neben uns eine völlig neue Weltsicht vorfinden, die potenziell genau die wesentlichen Informationen für uns bereithält, die wir brauchen. Ohne Offenheit ist dieser Schatz jedoch vor uns verborgen und schlummert hinter weltanschaulichen Mauern.
Dumme werden dümmer und Kluge werden klüger
Seit dem Siegeszug der Fakten im Neunzehnten Jahrhundert, wurden Daten über Details immer zurückgehalten. Erst die Schlussfolgerungen haben den Weg in die Öffentlichkeit gefunden über akademische Publikationen. Und noch heute ist dieser Flaschenhals am Werk. Weinberger plädiert für einen offenen Umgang mit den Grundlagen wissenschaftlicher Arbeit, indem er anregt, die Open Access Bewegung zu unterstützen, die wissenschaftliche Publikationen auf der Basis öffentlicher Finanzierung auch der Öffentlichkeit kostenlos zur Verfügung stellen will. Denn das Zeitalter der Daten ist vorbei. Damals waren alle Fakten eingeschlossen in Tabellen und universitären Datenbanken. Jetzt im Zeitalter des weltweiten Netzes wird es Zeit, sie über das Linked Data Format zu befreien, damit junge Forscher und Firmen freien Zugang zu wichtigen Forschungsdaten haben. Und es sollte bei allen Publikationen von Erkenntnissen immer und überall auf all die Inhalte verlinkt werden, die sie ermöglicht haben. Schon Charles Darwin hatte seine jahrelangen Studien zur Evolutionstheorie nicht aus dem luftleeren Raum oder der Seepocke gesaugt. Er hatte auf seinen jahrelangen Reisen mit dem Forschungsschiff Beagle ein geologisches Fachbuch an seiner Seite, dass ihn zu der Analogie inspirierte, dass auch im belebten Teil der Natur sehr langsame Entwicklungsprozesse zur Gestaltbildung führen können.
Weinberger ist sich bewusst, dass wir in Sachen Wissen in einer Krisenzeit leben. Er hat schlagende Argumente für einen positiven Umgang mit dem Netz. Auch die kritischen Faktoren sind ihm bewusst. Denn wie beim Fernsehen auch, entscheidet die Vorbildung über Wohl und Wehe des Internet. Aber sein Buch enthält luzide Einsichten, die sowohl Manager als auch Eltern und Lehrkräfte gewinnbringend einsetzen können. Nebenbei erhalten sie eine kleine Einführung in Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie zum Nulltarif. Seine Ansicht, dass Wissen zunehmend eine Eigenschaft des Netzes wird und weniger ein Charakteristikum für Individuen, könnte allerdings noch lange in den Hallen des akademischen Betriebs ohne Echo nachhallen. Das Ego ist ein behäbiges Tier, dass nicht selten nach den höchsten akademischen Weihen an Kraft verliert. Das Netz offenbart solche Schwächen schonungslos, wie ehemalige Doktoren aus dem politischen Umfeld schmerzlich erfahren mussten.
Insgesamt wirkt das Buch wie aus einem Guß. Leider fehlen ihm Hinweise auf all die essentiellen, zumeist unbewussten Vorgänge in uns, die Entscheidungen vorbereiten oder gar auslösen. Und so erkennen wir auch bei ihm die vielfach gelesene, unspektakuläre Ansicht, dass niedergeschriebenes Wissen in den meisten Fällen des Lebens eine große Hilfe ist. Dieser Fetischcharakter des Wissens, der weder durch den Fokus auf Fakten noch auf den Dialog mit Zeitgenossen eine bessere Begründung erfährt, eröffnet jedoch keine neue Perspektive durch das Web. Es scheint, dass das Internet aktuell nichts weiter ist als ein Ersatz für Bibliotheksraum und tagelange Reisen zu Konferenzen. Eine wirklich neue Dimension hat auch David Weinberger im weltweiten Netz nicht entdeckt.
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Schlagwörter: Netztheorie, Weinberger