Es ist der 26.06.1999 im New York Central Park. Ein gewisser Garri Kasparov eröffnet die größte Schachpartie der Geschichte. Der Gegner des 17-fachen Weltmeisters und Weltranglistenersten: ein Team aus fünf Experten. Doch diese machten nur Vorschläge für mögliche nächste Züge. Entscheidend waren die 3,5 Millionen anderen Teilnehmer*Innen, die von ihren Rechnern aus über das weitere Vorgehen abstimmten. 24 Stunden Zeit hatten die Kontrahenten pro Zug. Nach sage und schreibe vier Monaten und 62 Zügen war es dann am 22. Oktober soweit. Der Champion Kasparov konnte gegen die Schwarmintelligenz von Millionen Menschen gewinnen und so sein Vermächtnis untermauern. Ein neuer Schach-Boom war geboren.
Zeitsprung. Es ist der 23.10.2020. Netflix veröffentlicht die Serie „The Queen’s Gambit“, zu Deutsch: „Das Damengambit“, auf ihrer Plattform. Innerhalb von vier Wochen landet die Serie in 63 Ländern auf Platz eins und wird mit 63 Millionen Zuschauern die bis dato erfolgreichste Miniserie auf Netflix. Sie gewinnt einen Golden Globe, erhält 18 Emmy-Nominierungen und viele weitere Preise.
Beide Ereignisse hängen insofern zusammen, dass sie Millionen Menschen für einen vermeintlich langweiligen und veralteten Sport begeistern konnten, das Schachspielen. Doch dieser Ruf dürfte mittlerweile Vergangenheit sein. Immer mehr wandelt sich das Image des Sports. Nun wird auch auf der beliebtesten Live-Streaming Plattform der Welt Twitch immer mehr Schach gestreamt. Wie konnte sich dieser Trend entwickeln? Und was hat die Pandemie damit zu tun? Dazu eine kleine Chronik des jüngsten Schach-Booms.
Die Helden und Schurken des Bretts
Schach erlebt im Verlauf der Geschichte immer wieder Momente der medialen Hochphasen. Etwa bei dem Weltmeisterspiel Bobby Fischer gegen Boris Spassky 1972, dem sogenannten Match des Jahrhunderts. Oder dem Match von Kasparov gegen den Supercomputer Deep Blue von IBM im Jahre 1997. Hier schlug zum ersten Mal ein Computer unter Turnierbedingungen einen amtierenden Weltmeister. Damals eine mediale Sensation, die einen Schachboom auslöste. Doch dies liegt Jahrzehnte zurück und ist für Neueinsteigende heutzutage eher eine Fußnote, wenn sie es überhaupt wissen. Was hängen bleibt sind vielmehr die Personen des Sports selbst, die für Aufsehen sorgten und sorgen.
Sowohl Fischer als auch Kasparov sind extrem polarisierende Vertreter ihres Sports gewesen. Kasparov geriet in einen jahrzehntelangen Streit mit dem Weltschachverband FIDE, was ihn sogar einen Weltmeistertitel kostete. Später wechselte er in die Politik und legte sich mit Vladimir Putin an. Und Fischer gilt zwar als einer der besten Schachspieler aller Zeiten, war aber auch bekennender Antisemit, Sexist und Straftäter.
Auch heute gibt es nicht weniger medial-präsente Personen. Der amtierende Schachweltmeister seit nunmehr neun Jahren, Magnus Carlsen, steht immer wieder in der Öffentlichkeit. Aber eher in positivem Sinne. „Der Mozart des Schachs“, wie ihn eine Dokumentation betitelt, fiel schon diverse Male als Model für G-Star Raw auf. Es folgten Auftritte bei den Simpsons und eigene Filme über ihn. Später gründete Carlsen eine Schachplattform, Play Magnus, die 2020 sogar in den norwegischen Aktienindex aufgenommen wurde. Somit ist er das Gesicht des modernen Schachs, welches nicht mehr angestaubt daherkommt, sondern jung, witzig und unternehmerisch. Etwas, dass ihm auch immer wieder zum Vorwurf gemacht wird.
Junge Frau sucht alten Sport: „Das Damengambit“
Hier schließt sich wiederum der Kreis zur Serie „Das Damengambit“. Hauptcharakter Beth Harmon ist nämlich auch eine Figur mit Ecken und Kanten. Das fiktive Schachgenie trinkt, hat eine starke Tablettensucht, hat Probleme mit sozialen Bindungen und ist vor allem übermäßig ehrgeizig. Hierin liegt aber auch die Stärke der Figur. Beth ist ein krasser Gegenentwurf zum angestaubten Image, was sich Zuschauer*Innen unter Schachspieler*Innen womöglich vorstellen. Zudem verfolgen Zuschauende ihren Werdegang vom Kind mit tragischem Hintergrund zum Weltstar. Mit ihrer juvenilen Art besiegt sie einen Gegner nach dem anderen und lässt ihre zumeist männlichen Kollegen dabei alt aussehen.
Die Serie strahlt dabei eine ungewohnte Schönheit des Spiels aus. Dazu tragen neben Beth vor allem die wundervolle Optik und Ausstattung der Serie bei. Ob Kostüme im Schachbrettmuster, riesige Kulissen in Moskaus Zaren-Hallen, oder die Partien selbst. Die Zuschauer*Innen verlieren sich darin und folgen gespannt Zügen, die sie selbst eigentlich nicht verstehen können. Die Verbindung aus Körpersprache und Mimik mit einer geschickte Regie lassen uns verstehen, wer gerade die Oberhand hat und erzeugen eine eigene Spannung. Das färbt auf das Publikum ab. So konnte Millionen Menschen und insbesondere Frauen eine neue Seite des Sports offenbart werden. Damit leistet die Serie einen enormen Beitrag am aktuellen Schach-Boom und bringt viele neue Spielerinnen und Spieler ans (virtuelle) Brett.
Virtuelles statt analoges Schach
Stichwort virtuelles Brett. Denn diese sind ebenfalls ein bedeutender Faktor für den aktuellen Erfolg des Spiels der Könige. Zwar gibt es schon seit Jahren mehr oder weniger erfolgreiche Online-Plattformen, doch nie gab es auf ihnen so viel Traffic wie im letzten Jahr. Plattformen wie Chess24.com, Chess.com oder Lichess.com können auf ein erfolgreiches Jahr zurückblicken. Allein bei Chess.com sind im November letzten Jahres täglich Rekorde für Neuanmeldungen gebrochen worden. 2,5 Millionen Neuregistrierungen in einem Monat, Netflix sei’s gedankt. Auf Twitch, der erfolgreichsten Livestreaming-Plattform der Welt, erlebt man sogar schon seit letztem Sommer das Ausmaß des Schach-Booms.
Ein wichtiger Vorreiter hierfür ist der Großmeister Hikaru Nakamura, ein amerikanisch-japanischer Profi, der den Stein auf Twitch ins Rollen brachte. Hatte er vor dem Hype im März bei seinen Streams in der Regel 1.500 Live-Zuschauer, so waren es im Juni bereits 15.000. In diesem Jahr hat er eine unglaubliche Anzahl an 1,3 Millionen Followern erreicht und zählt damit zu den Top-Streamern der Welt. Und das mit einem virtuellen Schachbrett.
Schachspielen oder doch influencen?
Aber man sollte nicht denken, dass dieser Erfolg allein Schach zu verdanken ist. Nach eigener Aussage sieht Nakamura das Besondere in der Art und Weise, wie er das Thema an junge Leute heranträgt. Entscheidend sind dabei die großen Wörter unserer Zeit: Authentizität und Persönlichkeit, was z.B. mittels unterhaltsamer Kommentare, oder Reaction-Videos zu aktuellen Online-Themen ausgedrückt wird. Damit bringt der Großmeister viele junge Zuschauer an das Brett und zeigt ihnen, dass Schach mehr ist als alte Männer, die sich stundenlang grübelnd gegenübersitzen. Online sind mittlerweile die Blitz- oder Schnellschach-Variante die beliebtesten. Diese geben Spieler*Innen 15 Minuten pro Partie oder 1 Minute Bedenkzeit pro Zug, was sie deutlich einfacher zu konsumieren macht. Man muss nun mal mit der Zeit gehen.
Laien sind die besseren Profis
Dass dieses Konzept funktioniert, beweisen auch deutsche Streamer*Innen und Content-Creator*Innen. Bestes Beispiel dafür sind Rocket Beans TV und Chess24.com. Beides sind Hamburger Online-Unternehmen, die sich im letzten Jahr für ein Schachprojekt zusammenschlossen. Dadurch entstand das „Zugzwang-Turnier“. Hierbei treten bekannte Streamer*Innen, aber auch RBTV-Interne gegeneinander an. Der Clou dabei: Die Teilnehmenden können kein Schach – oder sind maximal hier und da mit dem Spiel in Kontakt gekommen. Niemand ist Profi oder auch nur Amateur.
Das Publikum erhält durch diese Unerfahrenheit der Kandidat*Innen Identifikationspotenzial. Die meisten Zuschauer sind nämlich ebenfalls nicht schachkundig. Deswegen können Zuschauer*Innen zum einen dem Niveau der Partien folgen und andererseits Fehler entdecken, die bei Profimatches nicht vorkommen. Dadurch entstehen spannende Situationen, die durch einsteigerfreundliche und unterhaltsame Kommentare umso interessanter werden. Die Teilnehmenden sind Streamer*Innen wie Maxim Markow, Vlesk, TrilluXe, StarletNova, Karuzo1g, LPGjustjohnny, uvm., die zusammen über 1 Millionen Menschen erreichen. Hinzu kommen Internetgrößen wie FloVarion oder Stefan Titze, Autor von „How to sell drugs online (fast)“. Schaut man sich dieses Teilnehmerfeld an, wird deutlich, dass Schach in der Mitte des Mainstreams angekommen ist und sich dort bis heute noch behaupten kann.
Doch die Unerfahrenheit ist nur ein Punkt des Erfolgsrezeptes. Ebenso wichtig sind die Kommentatoren, angeführt vom Großmeister Jan Gustafsson, der Platz vier der deutschen Schach-Rangliste einnimmt. Als Mitbegründer der Plattform Chess24 ist er erfahren im Online-Schach und weiß sich für ein Publikum zu präsentieren. Durch Charisma lassen die Moderatoren die eigentlich stillen Partien zum Leben erwecken und geben zusätzlich Tipps und Tricks für Neueinsteiger*Innen. Hier zeigt sich, dass die Hikaru-Formel aus Persönlichkeit und Authentizität, gepaart mit Humor und Schlagfertigkeit, sehr gut ankommt. Das beweist auch die mittlerweile 4. Ausgabe des Turniers, welches diesen Monat gestartet ist, sowie die Aufrufzahlen, die kombiniert weit über 1.000.000 liegen.
Lockdown lockt zur Partie
Der Moment, als Schach wie Phönix aus der Asche emporstieg, ist wohl keiner einzelnen Person oder Sache zuzuschreiben. Vielmehr ist es die Verbindung aus vielen kleinen Momenten und Ideen, die sich alle zur richtigen Zeit vereint haben. Was wohl als Initiator feststeht, man glaubt es oder nicht, ist der erste Lockdown.
Denn die Corona-Pandemie ab Beginn 2020 und das Herunterfahren des öffentlichen Lebens trugen einen entscheidenden Teil in dieser Geschichte bei. Aufrufzahlen und Traffic auf Schach-Websites, Bestellungen bei Warenhäusern, Anmeldungen im Verein: Überall ließ sich ein erhöhtes Aufrufen von Schach-Content beobachten. Woran das liegt, kann man nur vermuten. Die Leute sind zuhause eingesperrt gewesen und von ihren Kontakten abgeschirmt. Da wendet man sich möglicherweise neuen Dingen zu oder probiert analoges oder digitales Schach. Laut Jan Gustafsson sind die Zahlen auf Twitch in dieser Zeit auf jeden Fall hoch gegangen. Er kann sich aber auch nicht erklären, warum unbedingt Schach und nicht Sudoku diesen Aufwind erfuhr.
Schach-Boom trotzt dem Zahn der Zeit
Was den Hype wirklich auslöste, lässt sich nicht genau ermitteln. Doch der Zeitstrahl verrät uns, erst war der Lockdown, dann Schach auf Twitch, dann „das Damengambit“, und ab dann war es ein Selbstläufer. Das Erfolgsrezept war und ist, engagierten und ehrgeizigen Laien dabei zuzusehen, wie sie das Spiel entweder erlernen oder sich verbessern. Und wie sie bei diesem Prozess verzweifeln bzw. sich freuen. Mittlerweile ist das Niveau aber gestiegen. Wer letzten Sommer begonnen hat, ist mittlerweile sicherlich kein Anfänger mehr. Auch bei „Zugzwang“ ist das spürbar.
Dennoch hält sich Schach bis heute auf den Plattformen. Die große Welle ist zwar abgeflacht, doch das Kind ist trotzdem in den Brunnen gefallen. Durch seinen kompetitiven Charakter, der Frust und Lust gleichermaßen bedient, ist Schach nun auch einer neuen Generation an Menschen zugänglich. Selbst wenn sich der Boom des letzten Jahres nicht halten konnte, sollte man keine Angst um Schach haben. Und vielleicht kommt ja doch noch eine 2. Staffel vom Damengambit.
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Schlagwörter: Damengambit, Online-Schach, Schachboom, Twitch, youtube