Nicht nur die Netzszene reagierte hellhörig als die Meldung durchsickerte, dass Sascha Pallenberg, einer der prominentesten Tech-Blogger und Gründer der national und international bedeutsamen Plattform „Mobile Geeks“, von der Daimler AG rekrutiert wurde. Pallenberg steht als Head of Digital Content des Stuttgarter Konzerns in einer Reihe von weiteren spektakulären Seitenwechseln, die eine neue Phase in der PR einleiten. Ausführlich nachzulesen in der April-Ausgabe des prmagazins.
„Die klassische Unternehmenskommunikation lief über den Gatekeeper Journalist, dann über den Gatekeeper Blogger oder Influencer und jetzt erleben wir den dritten Schritt. Unternehmen werden selbst zu Medien“, erläutert Karsten Lohmeyer, Chief Content Officer der Agentur The Digitale, die 2014 von der Deutschen Telekom als Content-Marketing-Startup aus der Taufe gehoben wurde. Was wir jetzt erleben, sei die nächste und richtige Stufe.
„Warum soll ich als guter Kommunikator nur mit zehn oder 20 Journalisten sprechen, wenn ich direkt mit allen Stakeholdern in Verbindung treten kann. Also mit Kunden, potenziellen Kunden, Lieferanten, Aktionären und allen weiteren relevanten Zielgruppen eines Unternehmens. Was bei Daimler passiert, war auch der Beweggrund unseres Mutterkonzerns. Also der Gedanke des Telekom-PR-Chefs Philipp Schindera, eine Content Factory nicht nur zu formulieren, sondern auch umzusetzen. Es gibt rund 130 Kolleginnen und Kollegen, die alle gut ausgebildet und unglaublich gut in ihren Themen sind. Sie sind auch in der Lage, die Themen eines solchen Konzerns direkt in einer massenmedialen Kommunikation auf die Straße zu bringen“, so Lohmeyer.
Gleiches vollziehe sich bei der Allianz über Storytelling-Konzepte.
Schlauer Schritt von Daimler
Er findet es faszinierend, wie viele neue Konzepte in deutschen Unternehmen entstehen. „Es ist ein sehr schlauer Schritt von Daimler, Sascha Pallenberg an Bord zu holen. Das ist ein unglaublich spannendes Experiment“, betont Lohmeyer, der mit dem Blogprojekt LousyPennies.de bekannt wurde. Erste Akzente konnte man beim Musik- und Internetfestivals South by Southwest (SXSW) in Austin erkennen, bei dem sich Daimler-Chef Dieter Zetsche mit der Silicon Valley-Ikone Guy Kawasaki ins Getümmel stürzte und in neuen Western-Boots die lockere Atmosphäre der Netzszene aufsaugte.
Ganz im Gegensatz zu vielen Protagonisten der deutschen Wirtschaft, die offene Formate als esoterischen Quatsch abstempeln und einen großen Bogen um Netzaktivisten machen. Unter dem Hashtag #KölnerBarcampKontroverse ist das gut dokumentiert. Zetsche ist der erste Vorstandschef eines DAX-Konzerns, der die SXSW in seiner 31. Auflage besuchte. „Es war ein Event zum Lernen. Für den Konzern Daimler und für Mercedes Benz war das sehr wichtig“, so Pallenberg im Gespräch mit dem prmagazin.
Der nahbare Konzernchef
Zetsche sei für alle ansprechbar gewesen. „Jeder hatte die Möglichkeit, Fragen zu stellen oder spontan Interviews zu machen – wie die Zeitschrift Wired. Das ist mehr oder weniger aus der Hüfte entstanden und belegt, dass wir in Austin eine progressive und gute Kommunikation gemacht haben, die sich von anderen Firmen abhebt. Man kam locker an Zetsche ran“, bemerkt Pallenberg. Es sei alles durchgespielt worden. „Wie positioniert sich ein Unternehmen wie Daimler auf so einem Festival? Wie diskutieren wir über Technologie-Themen? Welche Anregungen nehmen wir auf? Dazu zählen auch emotional gedrehte Videos und andere Darstellungsformen, die über Selfie-Videos hinausgehen.“
Man konnte deutlich erkennen, an welchen Punkten Zetsche lockerer wurde und es ihm persönlich auch Spaß gemacht hat. Es sei aber noch mehr erreicht worden. Mit der me Convention, die Daimler gemeinsam mit der SXSW parallel zur IAA im September in Frankfurt organisiert , werde der erste Ableger des Internet-Festivals außerhalb von Austin etabliert. Die me Convention findet vom 15. bis 17. September in der Frankfurter Festhalle statt, der traditionellen Bühne des Mercedes-Benz IAA Messeauftritts. Das Programm wird ergänzt um Konzerte und andere Veranstaltungen im Stadtzentrum.
Neuer Geist auf der IAA
„Das zeigt deutlich, wie sich Daimler positioniert. In der Vergangenheit war es ja eher so, dass Automobilfirmen zu Tech-Messen gekommen sind. Auf einmal erleben wir eine Entwicklung in die andere Richtung. Und das ist sehr wichtig. Die klassische Automobil-Messe hat sich in den vergangenen 50 Jahren nicht großartig verändert. Wir leben aber in einer Zeit, wo wir vor fundamentalen Veränderungen dieser Branche stehen. Deshalb ist es essentiell, dass man das auf den klassischen Formaten auch abbildet. Was im September passiert, ist ein riesengroßes Ausrufezeichen“, sagt Pallenberg.
Der Konzern habe begriffen, sich zu öffnen und nicht mehr in der eigenen Blase vor sich hinzuköcheln.
Owned Media anders denken
Änderungsbedarf sieht Pallenberg auch bei den Netzaktivitäten. Auf Online-Marketing-Kongressen hört man nach seiner Ansicht wenig zu neuen Kommunikationsformen und Inhalten. Besonders, wenn es um „Owned Media“ geht.
„Schließlich begeben sich Firmen und Werbetreibende in ein starkes Abhängigkeitsverhältnis zu den Plattformanbietern. Genau das will ich ein wenig ändern mit unseren Inhalten.“
„Wir haben in den vergangenen Jahren durch die Dynamik der sozialen Netzwerke zu sehr darauf gesetzt, wirklich jeden Trend mitzumachen. Es ging immer darum, direkt herauszufinden, wie wir jede neue Plattform bespielen können. Mittlerweile sind wir umgeben von über sechs sozialen Netzwerken, die von den Unternehmen beackert werden – von Snapchat bis YouTube. Wir geben damit eine ganze Menge unserer Content-Hoheit ab und vertrauen darauf, was uns diese Plattformen in Reportings zurückgeben. Aber was sind diese Zahlen wirklich wert?“, fragt sich Pallenberg.
Ob das alles so stimmt, sollte zumindest kritisch hinterfragt werden.
„Wir sehen schon wahnsinnige Unterschiede bei einem recht einfachen Indikator: Den Views bei Online-Videos. Bei Snapchat wird ein View schon in der ersten Sekunde gezählt. Bei einem Facebook-Video nach drei Sekunden und bei einem YouTube-Video aber erst nach 30 Sekunden. Dann weiß ich aber immer noch nicht so genau, ob das stimmt. Ich halte es daher für unverzichtbar, auch seine eigenen Plattformen nicht zu vernachlässigen und eine Back-to-the-Roots-Strategie zu fahren.“
„Man muss die Nutzer auf die eigenen Plattformen zurückholen, weil ich dort die Möglichkeit habe, den Erfolg der Kommunikation zu messen, die Nutzer auf der Seite zu führen und sie besser kennenzulernen. Im Moment lernen nur die Betreiber der sozialen Netzwerke über die Internet-Nutzer. Das ist viel mehr als wir nur ansatzweise an Daten sammeln können. Bei Facebook ist fast das gesamte Leben hinterlegt“, führt Pallenberg gegenüber dem prmagazin aus.
Ein wenig mehr Autarkie könnte nicht schaden, denn man wisse nie, ob ein Snapchat trotz Börsengang in fünf Jahren noch existiert. Gleiches gelte für Facebook. „Was ist denn, wenn die von heute auf morgen ihre Algorithmen ändern oder für Werbung einfach mal das Doppelte verlangen? Je mehr man auf diese Plattformen auslagert, desto mehr Abhängigkeiten entstehen.“
Neuer Kommunikationshabitus vonnöten
Ob die vielen Seitenwechsler, die jetzt in den Unternehmen neue Content-Einheiten etablieren, zu einem Niedergang des Journalismus führen, gehe nach seiner Meinung an den Tatsachen vorbei. Das sei eher ein Beleg für zu wenig Selbstbewusstsein auf der journalistischen Seite. Die Herausforderung liege doch bei den klassischen Medien, Premium-Inhalte herauszubringen. „Gute Unternehmenskommunikation lebt von der Transparenz. Es muss klar sein, von wem die Botschaften stammen.“
Die Content Factorys lösen in der klassischen PR einen enormen Veränderungsdruck aus. Wer ohne Vermittlungsinstanzen mit der (Netz-)Öffentlichkeit sprechen will, braucht einen anderen Kommunikationshabitus. Wer weiterhin Botschaften über tindereskes Reichweitenmarketing (Wortkreation von Falk Hedemann) rausballert, sich Kunden gegenüber rambohaft wie die Fluggesellschaft United in Szene setzt, kritische Diskussionen über unethisches Verhalten ins Hinterzimmer verbannen will oder weiterhin Service-Probleme mit Hotline-Idiotie lösen möchte, sollte über Content Factory-Gründungen noch nicht einmal nachdenken. Das Notiz-Amt empfiehlt diesen Unternehmen weiterhin Schweinebauch-Anzeigen, die mit Nichtwahrnehmung bestraft werden können.
Image (adapted) „Konferenzraum“ by Unsplash (CC0 Public Domain)
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Schlagwörter: Automobil, blogger, Daimler, journalismus, kommunikation, Medien, Soziale Medien, sxsw, unternehmen, Unternehmenskommunikation
3 comments
Schöner Beitrag
Gunnar bringts mal wieder auf den Punkt!