Weder Sherlock Holmes noch Donald Trump sind gegenwärtig vom Fernsehbildschirm wegzudenken. Die Ereignisse um Trumps Präsidentschaft mussten sich die Sendezeit mit der neuesten Sherlock-Staffel teilen, die am 15. Januar zu Ende ging. Die beiden sind jedoch überraschenderweise nicht nur durch die Präsenz im Fernsehen, sondern auch durch die Idee des Antiintellektualismus verbunden.
Trumps Einzug in das Weiße Haus gründete sich auf der von den Populisten hervorgerufenen Verachtung von Fachleuten aus der gebildeten, liberalen Elite, sowie einer Überbewertung des gesunden Menschenverstandes. Doch der Antiintellektualismus durchdringt unseren Kulturkreis auch an anderer Stelle: Werbeanzeigen für Erfrischungsgetränke zeigen, wie sich langweilige Universitätsvorlesungen in freudiges Leben verwandeln, sobald jemand eine Getränkedose öffnet. Die kürzlich initiierte Kampagne mit dem Titel „Welche Universität?“ suggeriert, dass höhere Bildung eine ähnliche Entscheidung ist wie die, sich eine neue Waschmaschine zuzulegen.
Wie ist das bei Sherlock Holmes? Sicherlich repräsentiert der Detektiv den Höhepunkt des Intellektualismus, den rational denkenden Experten. Als Leser und Zuschauer vertrauen wir auf Holmes‘ Expertise, das Rätsel zu lösen und die Ordnung wieder herzustellen. Allerdings suggerieren Doyles Geschichten und deren Adaptionen ebenso, dass Holmes‘ Intellekt beinahe schon ungeheuerlich ist. Zugleich ist die Darstellung des Sherlock in der BBC-Serie immer mit dem Stichwort des „hoch-funktionalen Soziopathen“ verknüpft. Die Serie stellt damit klar, dass intellektuelle Werte vermeintlich nicht denen der sozialen Menschlichkeit entsprechen.
Der viktorianische Holmes
Holmes als rationaler Superheld ist ein vertrautes Narrativ in der Popkultur. Der sich stets beschleunigende Takt des Lebens im viktorianischen Zeitalter, so die These, verlangte nach einer neuen Art eines fiktionalen Helden, der die überwältigenden Zeichen der urbanen Moderne zu entschlüsseln vermag. Jedoch übersieht dieser Ansatz einen essentiellen Punkt: Die intellektuellen Qualitäten, die Holmes zum Helden gemacht haben, machten ihn auch zu einer Figur des Misstrauens.
Die Erzählungen rund um den Detektiv waren kein unmittelbarer Erfolg. Die ersten beiden Romane aus der Feder von Arthur Conan Doyle, „Eine Studie in Scharlachrot“ (1887) und „Das Zeichen der Vier“ (1890) erhielt zunächst eine begrenzte Aufmerksamkeit und unbegeisterte Kritiken, teilweise verschuldet durch den abgehobenen und überspezialisierten Helden. In diesen Romanen schläfert Holmes einen betagten Terrier ein, um eine Theorie zu testen. An anderer Stelle beschreibt ihn Watson als „eine Rechenmaschine“, die etwas „angenehm Unmenschliches“ an sich hat. Und als Watson Holmes‘ Wissen auf den verschiedneen Gebieten untersucht, beschreibt er dieses als umfassend in einigen und merkwürdig mangelhaft in anderen Bereichen. Holmes hat durchaus Ahnung von Chemie und Anatomie, weiß aber nichts über Literatur, Astronomie oder Politik.
Die mangelhaft ausgebildeten Wissensgebiete des frühen Holmes gelten hier gewissermaßne als dekadent. Der spätviktorianische Psychologe und Kriminologe Havelock Ellis beschreibt die Dekadenz als den Teil, der das Ganze verschleiert. Moralische Gesundheit findet sich in einem Allrounder, wie bei Doyle selbst (er war zugleich praktizierender Allgemeinmediziner, schrieb für verschiedene Genres und hatte eine Begabung für so ziemlich jede Sportart, die im frühen 20. Jahrhundert gespielt wurde). Holmes ist ein Experte in oft obskuren Themengebieten. Seine Ablehnung der Tatsache, dass die Erde sich um die Sonne dreht, reflektiert auf satirische Weise seine intellektuelle Absonderlichkeit.
Der erste Erfolg kam im Jahre 1891, als Doyle sich dem Kurzgeschichtenformat des Strand Magazine widmete. Und so veränderte sich auch Holmes. Sein Wissen wurde abgerundeter, sein Charakter weniger harsch und sein Kokainkonsum verschwand weitestgehend. Dennoch bliebt das Gefühl bestehen, dass sein unbestechlicher Intellekt nur teilweise menschlich war.
Es ist kein Zufall, dass Holmes seine Fangemeinde in den Momenten für sich gewinnt, in denen er mit seinem Intellekt scheitert. In der ersten Geschichte „Ein Skandal in Böhmen“ wird Holmes von der Opernsängerin Irene Adler überlistet – einem Charakter, der in der BBC-Umsetzung „Sherlock“ vielsagend als Domina neuentwickelt wird. In „Das gelbe Gesicht“ interpretiert Holmes die Geschehnisse in Norbury vollkommen falsch. Er sagt zu Watson: „Sollte es Ihnen jemals so vorkommen, dass ich meiner Fähigkeiten ein wenig zu selbstbewusst werde, flüstern Sie leise ‚Norbury‘ in mein Ohr.“ Diese Szene wird in der aktuellen „Sherlock“-Episode „Die sechs Thatchers“ erneut aufgegriffen. Genau wie in den aktuellen politischen Kampagnen muss dem Publikum nahegebracht werden, dass man sich nicht immer auf Experten verlassen kann.
Unser Monster
Die aktuellsten Holmes-Adaptionen sprechen aus, was bei Doyle unausgesprochen blieb. Während Doyle Holmes gelegentlich mit einer Maschine vergleicht, macht Sherlock ihn zu einem Monster. „Aber es ist unser Monster“, sagt Mary Watson, wobei sie den Film „Ed Murrow – Reporter aus Leidenschaft“ aus dem Jahr 1986 zitiert. Seitdem erscheint die Phrase regelmäßig im Internet im Zusammenhang mit Trump.
Der „Sherlock“ der BBC ist die jüngste Erscheinung eines Trends, der seit den Siebzigern ersichtlich ist, als Autoren auf das Heldentum des kriegsgebeutelten Holmes von Basil Rathbone reagierten. Rathbones Holmes repräsentierte den Respekt einflößenden, englischen Helden, mit dem sich das Publikum auf Kosten des vergleichsweise schwachköpfigen Watson, dargestellt von Nigel Bruce, identifizieren sollte (einer Charakterisierung, die einen Großteil der Subtilität des Doyle’schen Watson übersieht). Im Gegensatz dazu versuchen postmoderne Adaptionen, Holmes einzuschränken und einfache Heldenbilder in Frage zu stellen: Filme wie „Kein Koks für Sherlock Holmes“ (1976) und „Das Geheimnis des verborgenen Tempels (Der junge Sherlock Holmes)“ (1985) zeigen einen traumatisierten oder noch sehr jungen Holmes.
Das soll nicht heißen, dass Holmes‘ Fähigkeiten geschmälert werden, sondern dass sich die aktuelleren Darstellungen auf einen antiintellektuellen Subtext verlassen, der verdeutlicht, dass herausragende geistige Fähigkeiten stets mit einem hohen Preis einhergehen. Die Eröffnungsszenen der BBC-Serie zeigen einen Holmes, der unfähig ist, sozial zu funktionieren, weil er damit beschäftigt ist, zahlreiche Rätsel zu lösen – eine Szene, die in Doyles urbanerem Original undenkbar wäre.
Tatsächlich stellen Serien wie „Sherlock“ oder die Filme von Guy Ritchie den Intellekt Holmes‘ paradoxerweise weit weniger bedrohlich dar, indem sie diesen auf absurde Weise überhöhen. Beispielsweise ist Sherlock in „Der lügende Detektiv“ in der Lage, komplexe Geschehnisse über Wochen im Voraus vorherzusagen. Wenn Doyles Fähigkeit darin bestand, Holmes‘ Vermögen gerade noch im Rahmen des Plausiblen darzustellen, definiert „Sherlock“ den Detektiv als allwissenden Gott neu – als eine Phantasiefigur, die uns in unserer Realität nicht irritieren soll.
Holmes‘ Intelligenz hilft, die Welt zu ordnen. In den modernen Adaptionen ist sie jedoch zu einem Fluch oder einem Krankheitsbild geworden. Nicht jeder kann wie Holmes sein. In dieser monströsen, allumfassenden Ausprägung möchte wohl allerdings auch niemand wie Holmes sein. Fragt man sich, wieso eine Person wie Holmes für uns heute noch interessant ist, ist es vielleicht ein Fehler, sich auf Sherlock selbst zu konzentrieren. Es ist nicht der Intellekt von Holmes, der sich ändern sollte, sondern die Art, wie andere darauf reagieren.
Dieser Artikel erschien zuerst auf „The Conversation“ unter CC BY-ND 4.0. Übersetzung mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.
Image „Sherlock Holmes Statue“ (adapted) by Justin Ennis (CC BY 2.0)
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