Im April des Jahres 2016 gab Facebook Gründer Mark Zuckerberg bekannt, dass die Social Media-Plattform seinen nahezu zwei Milliarden Benutzern die Möglichkeit des Livestreams von Inhalten zur Verfügung stellt. Dieser Schritt wurde als die natürliche Erweiterung der grundlegenden Ziele der Plattform betrachtet: Das Anbieten einer Plattform, auf der durchschnittliche Menschen ihre tagtäglichen Erfahrungen mit anderen teilen können – von Alltagserfahrungen bis hin zu bedeutsamen, einschlägigen Ereignissen.
Beinahe genauso schnell fanden die Benutzer der Plattform einen Weg, auch die schlimmsten Vorfälle live im Netz zu verbreiten, darunter das sogenannte Easter Day Slaughter, bei dem die fatale Schießerei auf einen 74-jährigen Rentner live übertragen wurde.
Als Resonanz forderten immer mehr Menschen Facebook dazu auf, das Anbieten des Livestreams zu beenden, oder wenigstens eine Möglichkeit zur besseren Überprüfung der Inhalte zu finden. Der Pastor Jesse Jackson merkte beispielsweise an, dass Facebook Live von den Menschen als Plattform genutzt wird, um ihre Wut, ihre Ängste und ihre Dummheit zu äußern.
Viele haben wegen dieser Verhaltensweisen Facebook eine Schattenseite zugeschrieben und fordern, dass das Unternehmen nach einer Lösung zur Prävention derartigen gesellschaftsfeindlichen Verhaltens sucht. Doch schon ein flüchtiger Blick auf die Geschichte der Sozialen Medien zeigt, dass die Verhaltensweisen, die aus den Schattenseiten resultieren, weder einmalig in der Geschichte von Facebook sind, noch als etwas Neues von den heutigen Benutzern betrachtet werden.
Eine dunkle Geschichte
Die Dichterin und Technologieautorin Judy Malloy beschrieb die ältesten Vorgänger der Social Media Netzwerke als Orte der Kreativität und Gemeinschaft. Programme wie beispielsweise die Berkeley’s Community Memory boten den Benutzern der 1970er einen digitalen Ort, um Inhalte zu posten und Geschichten, die von der Community gelesen wurden, zu teilen. Beliebte Inhalte waren dabei unter anderem persönliche Anzeigen und Kurzgeschichten.
Doch selbst diese friedvollen Tage hatten ihre dunklen Momente. Im Jahr 1985 schrieb die Autorin Van Gelder über ihre Erfahrungen mit dem CompurServe CB‘-Simulator einer der ersten online Chatrooms weltweit. Inmitten der beliebten Programme im CB-Simulator waren diese der Romantik und den Beziehungen gewidmet. Diese stoßen auf das besondere Interesse von LGBTQ-Menschen, denen es im Allgemeinen schwer fiel, über ihre geschlechtliche Identität und sexuellen Präferenzen im öffentlichen Raum zu sprechen. Während viele Nutzer auf der Suche nach der Liebe im Internet fündig wurden – 1991 wurde eine Hochzeit im CB-Simulator veranstaltet, bis heute gilt diese als die erste Online-Hochzeit – wurde Van Gelder getäuscht. Sie hatte eine intime, romantische Onlinebeziehung zu einem Mann, der sich als behinderte Frau ausgab.
Geschichten von sexueller Aggression bekamen im Jahr 1998 einen noch negativeren Touch, als der Technikjournalist Julian Dibbell von einer sexuellen Nötigung, die auf einer textbasierten Onlineplattform namens LambdaMoo stattfand, berichtete. Die Vorstellung einer sexuellen Nötigung im Internet mag abwegig erscheinen, wenn man bedenkt, dass die Benutzer keinen körperlichen Kontakt zueinander haben. Und doch war es einem Nutzer namens ‚Mr. Bungle‘ möglich, das Programm zu hacken und infolgedessen die komplette Kontrolle über die Handlungen der anderen Nutzer zu übernehmen, wie deren Gespräche und Beschreibungen ihrer Handlungsschritte.
Laut Dibbells Bericht benutzte ‚Mr. Bungle‘ diesen Hack, um die Nutzer zu veranlassen, obszöne Handlungen vorzunehmen und gewalttätige sexuelle Aktionen an ihren eigenen Körpern auszuführen. Die Benutzer der Plattform beschrieben auf welche Art und Weise sie sich und andere – ohne Erlaubnis – berührten. Mr. Bungle behauptete im Nachhinein, seine Aktionen seien lediglich ein Streich gewesen, trotz dem Beharren seiner Opfer darauf, dass sie durch seine Aktionen gedemütigt worden sind (oder zumindest durch die Aktionen die seine Opfer dazu gezwungen haben, sich vorzuführen). Die Geschichte ist denkwürdig angesichts der Tatsache, dass Beziehungen über das Internet genauso intim und wichtig sein können wie die Beziehungen außerhalb des Internets.
Springt man ins Jahr 2006, gerät man schnell an die Geschichte von Evan Guttmann und dem gestohlenen ‚Motorola Sidekick‘-Handy seines Freundes, das die Internetnutzer von damals faszinierte. Zunächst fing alles als schlichter Blogeintrag über einen Jugendlichen an, der es ablehnte, das Handy an seinen rechtmäßigen Besitzer zurückzugeben. Zum Schluss mündete es in einen wachsenden Internetmob, bei dem die Leser von Evans Blog die Adresse des Jugendlichen aufspürten und dessen Familie schikanierten.
Später im gleichen Jahr erfuhren die Nutzer der Plattform MySpace von der tragischen Geschichte der Megan Meier, einem Teenagermädchen aus Missouri, das sich das Leben nahm, nachdem sie von einem Jungen, den sie online kennengelernt hatte (es handelte sich um einen MySpace-Nutzer namens „Josh“), auf der Plattform gemobbt wurde. Erst nachdem Ermittlungen erfolgten, fand Megans Familie heraus, dass es sich bei „Josh“ tatsächlich um die Mutter eines Mädchens handelte, mit der Megan zuvor in einen Streit geraten war. Dieser Vorfall führte zum ersten Gesetzesentwurf in Bezug zum Onlinemobbing in den USA.
Soziale Medien verstehen
Diese Geschichten sind Beispiele dafür, was passieren kann, wenn einzelne Nutzer die Möglichkeiten zur Benutzung von moderner Technik entdecken: Man nutzt die Anonymität von CompuServe für Betrug, modifizierte mit cleveren Programmierungsskripten das Verhalten der anderen Nutzer, es wurden Blogs instrumentalisiert, um maximale Aufmerksamkeit auf ein geringes Vergehen zu lenken. Auch nutzt man Soziale Medien, um eine falsche Identität aufzubauen. In allen Fällen hatten die betrügerischen Aktionen dramatische Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen in deren realen Leben.
Das Wichtigste ist, dass diese Geschichten als Beispiele dienen, wie besonders Facebook und auch andere soziale Medien im Allgemeinen aufzufassen und zu verstehen sind. Es ist wichtig, dass die Nutzer die Gleichwertigkeit der Moral sowohl in Bezug auf Facebook-Kommunikation als auch in Bezug auf zwischenmenschliche Kommunikation erkennen. Statt soziale Medien generell als sinnlos und ablenkend abzutun und diese Perspektive an unsere Kinder abzugeben, sollten sie eingestehen, dass die zwischenmenschliche Kommunikation online genauso bedeutsam ist wie offline.
Berichterstatter haben die Livestreaming-Option von Facebook als „wesentlich grenzenloses Verbreitungssystem“ verflucht. Derartige Kritiken ignorieren jedoch die Vorteile dieser „grenzenlosen“ Verbreitung, wie das Vernetzen von Familien und die Möglichkeit, dass auch Stimmen von Verfolgten gehört werden können. Selbst Filmmaterial mit Gewalttaten kann zur richtigen Zeit von Vorteil sein: Die Facebook Live-Übertragung von der Schießerei in Minnesota im Juli 2016 diente als einflussreiche Mahnung, um auf soziale Ungerechtigkeit und Polizeiarbeit in den Vereinigten Staaten aufmerksam zu machen.
Anti-Terror-Streitkräfte setzen auf soziale Medien, um terroristische Aktivitäten zurückzuverfolgen und besser nachvollziehen zu können. Um den Missbrauch von Livestreaming zu bekämpfen, hat Facebook kürzlich bekanntgegeben, 3.000 zusätzliche Monitore für die Kontrollierung der Livevideos einzusetzen. Jedoch liegt meiner Meinung nach die Verantwortung für den Inhalt in den sozialen Medien letztlich bei den Nutzern, die die Inhalte tagtäglich erstellen und sich auf der Plattform bewegen.
Dieser Artikel erschien zuerst auf „The Conversation“ unter CC BY-ND 4.0. Übersetzung mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.
Image (adapted) „Dunkelheit“ by KristopherK (CC0 Public Domain)
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Schlagwörter: Beziehungen, Chatrooms, Cybermobbing, facebook, geschichte, Internet, kommunikation, livestream, netzwerke, online, Opfer, Plattformen, Social Media, Soziale Medien, videos
1 comment
Hallo, der Artikel stellt Chancen und Risiken durch Social Media in einer gelungenen Länge gut und treffend dar. Mein Eindruck ist, dass sich bei Facebook tatsächlich etwas getan hat. Wir dürfen gespannt sein, wie es weitergeht.