„Twitter und Facebook sind so dermaßen letztes Jahrtausend,“ so leitet Anand Ghiridharadas seinen denkwürdigen Artikel der New York Times vom 1. April 2009 ein. Und er hat recht. Im Kern sind sie sogar antik. Warum?
In seinem kleinen indischen Dorf lebt niemand in anonymer Stille und Zurückgezogenheit. Jeder bekommt den Streit der anderen mit. Man hat den Eindruck, dass jeder es offenbar darauf angelegt dass alle alles mitbekommen. Das hat einen Grund, denn man hat mehr davon, wenn man Teil des kommunalen Netzwerks der Nachbarn ist, als wenn man in völliger Anonymität lebt. Man hört Meinungen nach denen man nicht gefragt hat, man hört Ratschläge, die man vielleicht gar nicht braucht, aber so erhält man Anerkennung, Gemeinschaftsgefühl und vielleicht sogar das Gefühl, angekommen zu sein und geliebt zu werden.
Ursprung der digitalen Städte
Diese Werte sind uns eigentlich wohl bekannt. Zugegeben, die meisten kennen sie erst seit dem Geschichtsunterricht, wo die Ursprünge der Zivilisation in Mesopotamien gelehrt werden. Denn die Wurzel der heutigen Städte sind die Sippen. Wenn sich eine Sippe dazu entschlossen hatte, mehrere Aufgaben an einem Ort zu konzentrieren, also das Kümmern um die Alten, das Horten von Vorräten und das Bekochen der Kinder, dann wurden meistens passende geographisch günstige Standorte (Höhlen, Quellen etc.) mit einem organisatorischen Mehrwert aufgeladen, der für die Sippe soviel Nutzen brachte, dass mehr Freizeit entstand.
Freizeit schafft Kultur
Diese wichtigste Folge der intelligenten Planung von gemeinsamen Aufgaben war Motor und Ursache aller folgender Kulturleistungen, sei es die Erfindung der Werkzeuge oder gar neuer Werkstoffe. Denn man musste satt sein und eine gesicherten Ort in einer liebevoll zugewandten Gemeinschaft erleben, um mit Versuch und Irrtum Neues zu entdecken. Denn anders als viele moderne Experten uns glauben machen wollen, liegt die Quelle der Innovation in einer freien und familiären Atmosphäre mit viel freier Zeit, in der eben auch mal etwas völlig Unsinniges passieren kann. Ein durchorganisierter Zeitplan der auf Effizienz getrimmt ist, stört den alltäglichen Plausch – verhindert dadurch das tägliche Erneuern sozialer Bindungen – was die Unsicherheit gegenüber der direkten Umgebung erhöht und damit die Möglichkeit verhindert, ungestört über Neues und vielleicht Unwichtiges, potenziell aber Bahnbrechendes nachzudenken.
Soziale Netzwerke sind der tägliche Tingplatz
In der mittelalterlichen Dorfstruktur kristallisierten sich bald besondere Plätze heraus. Es waren meist Kultplätze, die schon lange eine rituelle Bedeutung in den lokalen Glaubenssystemen hatten (später wurden sie meist durch die buchbesitzenden Religionen wie Judentum, Christentum oder Islam zu deren Zwecken mit Prachtbauten in Beschlag genommen). Aber zunächst ist wichtig, dass diese besonderen Plätze durch die Sippen der Umgebung zu bestimmten Zeiten und definierten Anlässen als Treffpunkt aufgesucht wurden. Dort entstanden die ersten Marktplätze, weil reisende Kaufleute diese Termine nutzten, um besonders vielen potenziellen Kunden an einem Ort ihre Waren zu verkaufen. Die eigentliche Ursache ist aber noch eine ganz andere, denn der Thing (altgermanisch für Ding, auch im englischen noch heute gut bekannt) hat seinen Namen aus dem Ort, wo Rechtsdinge entscheiden wurden. Diese Verhandlungen wurden immer in einer Versammlung mehrerer Sippen abgehalten und waren damit sippenübergreifend, also im präfeudalen und pränationalen Sinne waren dies internationale Institutionen wie die UN, allerdings hatten sie im Gegensatz zur UN alle weltliche Macht jener Zeit.
An dieser Stelle fehlt den digitalen Städten also sozusagen der Kern einer sozialen Infrastruktur, nämlich eine Rechts- und Sittenüberwachung der Gemeinschaft durch die Gemeinschaft selbst. Wenn es gelingen würde, die vielen demokratischen Bestrebungen aus allen Teilen der Welt in solchen digitalen Metropolen gemeinschaftlich auf gemeinsam diskutierte und akzeptierte Normen zu stabilisieren, dann wäre das digitale Netz als Medium der Informationsübertragung in Echtzeit eine unendliche Kette aus Menschen rund um unzählige Lagerfeuer, die gemeinsam über ihr Zusammenleben bestimmen und sich täglich über alle möglichen und unmöglichen Nebensächlichkeiten ihre Zugehörigkeit versichern und damit ähnlich wie das Lausen in der Tierwelt einen kulturellen Kontext herstellen, der heilende Wirkungen in der anonymen und entfremdeten Moderne gegenüber vielen pathologischen Erscheinungen entfalten könnte.
Bisher haben wir allerdings nur das Lagerfeuer und die reisenden Kaufleute. Die eigentliche Veranlassung der Treffpunkte (die Versammlung zur Entscheidung über die Rechtsdinge der Sippen) ist nicht vorhanden. Schlimmer noch, die meisten Sozialen Netzwerke geben bestimmtes Verhalten in fixierten Kodizes vor und ermöglichen damit keine Kommunenbildung. Der Zusammenhalt allein durch den Austausch täglicher Banalitäten ist jedoch sehr flüchtig, wenn kein gemeinsames Erörtern von Werten und Bewertung stattfindet. Es geht hier nicht um hochtrabende ethische Diskussionen, sondern um öffentliches Diskutieren des Verhaltens Einzelner Mitglieder unter der Maßgabe, ob solches Verhalten die Anderen einschränkt, deren Wahlmöglichkeiten sogar erweitert oder es eben Zeit ist, gemeinsam Konsequenzen durchzusetzen.
Explosion der modernen Demokratie
Die Folge solcher Diskussionen könnte eine enorme Zunahme an sozialer Kompetenz sein, die auch im realen Leben Platz greift. Denn anders als uns die feudalen und nationalen Herrschaftsstrukturen vorgemacht haben, ist ein Delegieren der moralischen Souveränität an so genannte professionelle Entscheider der springende Punkt der aktuellen Krisen – sei es die Wertediskussion, die Finanzkrise oder gar die vielen lokalen Fehden, die sich oft zu nationalen Kriegen ausweiten. Früher dauerte es Äonen, bis sich eine Gesellschaft aus den feudalen Fangarmen der Herrscher befreit hatten. In der Moderne haben sie auf dem Papier ungeahnte Freiheit. Genau diese aber wird in einem Akt an umfassender Selbstunterschätzung wieder beschränkt, indem die moralischen Entscheidungen an Politiker, Priester und Arbeitgeber abgegeben wird. Wer das tut kann sich nachher nicht beschweren, dass sein Leben entfremdet und fremdbestimmt ist. Er müsste sich seine Souveränität zurückholen.
Die digitale Stadt als Staat des 3. Jahrtausends
Wie erlangt man die Macht über sein Leben zurück? Das klingt jetzt wie eine Revolution. Aber sie ist gar nicht nötig. Es geht um das Erörtern einer Welt, in der wir gerne leben wollen ohne Anonymität und Schutz gegen pfiffige Glücksritter. Allein geht es nicht. Parteien sind auch keine Lösung, sie sind eher Teil des Problems – vor allem bei ihrer Nähe zum Lobbyismus. Es geht über den Zusammenschluss der Freunde und Bekannten – in sozialen Netzwerken. Dort ist der Ort, wo man – lauthals wie im indischen Dorf – seine Meinung kund tut, seine Befindlichkeit offenbart und Trauer, Krankheit, Glück und Meinungen über neue Schuhe in inflationärer Weise verbreitet.
Dann wird den marketers auffallen, dass sie zwar 600 Kleinstädte beheizen können mit dem Strom, der nötig ist, um all diese Daten zu speichern, aber die Menschen adaptieren ihr Verhalten schneller an die Verkaufstricks der Politiker, Verkäufer und Religionsverwalter als deren Machtmaßnahmen Haken schlagen können. Kurz gesagt: Die kritische Masse ist viel zu groß in einer digitalen Metropole. Man nennt dies den Netzwerkfaktor. Je größer die Masse derjenigen ist, die mitmachen, desto stärker ist der Hebel, den sie ansetzen können. Also macht weiter! Entwickelt Eure eigenen digitalen Städte mit sozialen Netzwerken aller Art und reist durch die Anbieter wie sie es mit Euch machen. Immer dahin gehen, wo am meisten zu holen ist.
Ich nenne es revers capitalism. Dem Anbieter, Politiker, Religionsverwalter das letzte Hemd ausziehen, damit er einen Ansporn hat für neue Hilfen, Dienste und Produkte, die den Menschen noch besser dienen. Wer nicht dienlich ist, wird einfach geschnitten. Der Käufer des 3. Jahrtausends bestimmt Markt. Der Bürger des 3. Jahrtausends bestimmt die Politik. Und der Mensch des 3. Jahrtausends bestimmt die Moral.
Bildnachweis: Foto von User rcastello auf sxc.
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Schlagwörter: digital, Netzkultur, Soziale-Netzwerke, städte
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Hier ein Link zu einem arbeitslosen Journalist. Dieser versucht über seinen Blog einen neuen Job zu finden. Ganz in WEB 2.0 Manier :)
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