Da haben sich die Redakteure vom Spiegel ein Fleißbienchen verdient. Kurz vor der Bundestagswahl hat man gemerkt, dass es wohl doch noch einige gibt, die das Internet täglich nutzen. Und da verwundert es auch nicht, dass man gleich die alten Kamellen aus der Rinne klaubt: böse Menschen, die im Web alles tun, was sie wollen; mittelprächtige Menschen, die eigentlich nur die bisher erkämpften demokratischen Freiheiten auch im Netz genießen wollen und eben die besseren Menschen, die wissen, was gut für uns alle ist.
Netz ohne Gesetz
So heißt der Titel dieser Sammlung von Informationshäppchen zu Themen wie Kinderpornographie und Netzsperren, dem Urheberrecht, das hier immer noch geistiges Eigentum heißt, den Netzbürgern als Netizens, verschiedenen Experten und Denkern zum Thema Netz und Recht und natürlich dem klassischen Problematisieren von Google. Und seltsamerweise wird das Netz als Paralleluniversum dargestellt. Offenbar ist dem Spiegel nicht in den Sinn gekommen, dass nun das Netz der Spiegel der Gesellschaft ist – wenn man mal von den unter 5-jährigen und den über 85-jährigen Mitmenschen absieht. Es ist ein „Refugium für Diebe, Rufmörder und Kinderschänder„.
Nach der Aufzählung aller Fakten des bösen Webs, kommen die Staaten und Netzfilteranbieter dran und werden in ihren Bestrebungen, das Gute durch Technologie zu installieren, dokumentiert. Und da wir im Rahmen der Iran-Berichterstattung der letzten Wochen über deep packet inspection erfahren haben, dass nicht nur der iranische und chinesische Staat, sondern beinahe alle europäischen Regierungen beim Nokia-Siemens-Joint-Venture Schnüffel- und Filter-Software gekauft hatten, sind wir sensibilisiert. Wir Netizens.
Was ist eigentlich ein Netizen? Im Jahr 1992 hatte Michael Hauben, ein amerikanischer Computerexperte und Autor den Begriff geprägt; als Mix aus net und citizen, um damit die Eigenschaften der Verantwortung eines Bürgers für seine Gemeinde auf die Gemeinschaften im Netz zu übertragen. Denn in den USA gibt es eine lange Tradition, dass alle Mitglieder einer Gemeinde auch Wohlfahrtsaufgaben übernehmen, die hier in Deutschland eher Kirchen und öffentliche Organisationen oder sogar die öffentliche Verwaltung selbst realisiert. Kurz: Der Begriff hinkt in Deutschland gewaltig.
Globale Grenzen?
Und ein weiterer Punkt wird umschrieben, aber nicht benannt. Die Globalisierung. Ihre juristische Formulierung heißt im Spiegel „Entgrenzung“. Denn ein Anbieter unerwünschter Inhalte wird kaum durch Google oder nationale Staaten kontrollierbar. Die große Masse wir durch Filter bei Suchmaschinen oder Netzsperren behindert, aber der Eingeweihte weiß genau, wie er das Netz nutzt, um an die Inhalte zu kommen, die er will. Im Zweifel ganz ohne Browser. Eine präzise Betrachtung der Wechselwirkungen von grenzübergreifendem Verkehr nicht-körperlicher Werte wie Dienstleistungen, Texte, Videos oder gar Produkte erfolgt nicht.
Die Piraterie zum Schaden der Musikverlage über P2P-Netzwerke wird angerissen. Und auch Reto Hilty wird angesprochen, der öffentlich ausspricht, was viele denken: Wir befinden uns im Umbruch. Zu einer Zeit, in der mehr und mehr Musikdateien kostenlos verteilt werden, hat die gesellschaftliche Praxis längst die alten Geschäftsmodelle überholt. Ein neuer Gesetzesrahmen müsste beidem gerecht werden, der Praxis der Massen und den Ansprüchen der Rechteinhaber. Und auch Wissen als Eigentum muss neu verhandelt werden in Bezug auf Patente und akademisches Arbeiten. Leider bietet der Text gar keine Diskussiongrundlage. Dabei sollte guter Journalismus doch den Boden bereiten für eine öffentliche Diskussion. Zu allem Überfluß meldet man dann auch noch die französischen Internetsperren, von denen wir seit zwei Monaten wissen, dass das französische Verfassungsgericht das Gesetz kassiert hat. Unwissen oder Tendenz?
Und so landen wir bei einem Thema, das angesichts der aktuellen ethischen, sozialen und politischen Probleme marginal erscheint, das aber den Verlagen immer wieder Anlass liefert, das Netz und einige seiner Erscheinungen zu nutzen, um subtile oder offene globale Attacken zu fahren: Das Urheberrecht und seine Vermarktung im Netz. Reuters versteht die neue Welt schon, vielleicht auch bald andere Medienkonzerne?
Und auch die Deutungshoheit der Öffentlichkeit über Staaten oder Nationen fühlt sich gestört. Schon immer haben Banken und Finanzhaie den Weltmarkt und ganze Staaten manipuliert. Schon immer haben multinationale Konzerne Präsidenten und ganze Parteien installiert, um ihre Interessen durchzusetzen. Jetzt, da es das Netz gibt, wird es plötzlich zu einem Thema, das digitaler Natur zu sein scheint. Auf den ersten Blick ist das an den Haaren herbeigezogen. Aber wenn man das alte Thema der Territorien dazudenkt, dann wird ein Schuh draus, denn die Namen bzw. Domains im Internet sind das Äquivalent zu Regionen und Staaten – es sind themenbezogene Erkennungsmerkmale.
Dass wir es hier mit einem groß angelegten Vorhaben der Aufklärung zu tun haben, scheint eher unwichtig. Emanzipation Einzelner gegenüber von Gemeinschaften ist ein Ausweis dieser Geistesrichtung. Auch die Tatsache, dass der Mensch als Weltbürger betrachtet wird kommt aus dem Zeitalter der Aufklärung. Es war vor allem eine Sache der Wohlhabenden, also des ökonomisch erfolgreichen Bürgertums – und das ist es auch heute noch. Wissen in Form von Dokumenten und Inhalten wird so hoch geschätzt, dass man Angst vor der Alexandrinischen Bibliothek namens Google bekommt. Noch mehr Angst hat man aber, dass nun alle Zugang zu allem haben könnten.
Dass sich eines Tages herausstellt, dass nicht Daten und Fakten, sondern Relationen das Maß aller Dinge sind, steht nicht zu befürchten. Und so wird auch weiterhin auf eine lex digitalis gehofft, die verbriefte Rechte ausweisen kann. Als hätte es nie die Charta der Menschenrechte gegeben. Und so endet der Artikel mit dem schlimmst möglichen Schlußsatz: da wartet eine dringende Aufgabe auf den Club der guten alten Staaten. Es wird die Selbstorganisation und die Selbstbestimmung der Menschen ausgeklammert, in alt-kolonialem Stil werden wieder Europäer als die Heilsbringer der Welt aufgefasst und die Netizens sind einmal mehr Zuschauer beim Bau der Menschheitsgeschichte. Einen derart restaurativen Unterton, wie ihn dieser Text ausstrahlt, kann man eigentlich nur mitleidig zur Seite legen und elegant über die Arroganz der sterbenden Schwäne hinwegsehen.
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Schlagwörter: digitalkultur, google, Internet, kritik, netizen, spiegel
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