Starkes langsames Bohren von harten Brettern

Krisen allenthalben. Ohnmachtsgefühle ob der rasenden Zyklen in der neuen Unübersichtlichkeit. Was tun? Den eigenen Standpunkt verlassen, hoch oben, aus der Vogelperspektive schauen, um sich selbst neu zu verorten. In „Slow Politics“ liegt die Kraft der Entschleunigung und Vernetzung. 

Es ist gar nicht so lange her, da machte der Topos des neuen „Wutbürgers“ die Runde. Ein mündiger Bürger, der angesichts empfundener Ungerechtigkeit und verloren gegangenem Glauben an die interessenausgleichenden staatlichen Institutionen, nicht mehr einfach genügsamer Teil der schweigenden Mehrheit sein wollte und lautstark Politik die Gefolgschaft verwehrte. Ein mächtiger Zusammenschluss, der eine essentielle Frage einte und formulierte: „In was für einer Demokratie wollen wir leben?“

Angesichts der unaufhörlich auf uns einprasselnden und sich beschleunigenden Zyklen von Krisen – von europäischer Finanzkrise und Lampedusa bis zu Maidan und dem größten Überwachungs- und Ausspähskandal der Geschichte, dem NSA-Gate – scheinen wir eine Schockstarre des empörten Bürgers zu beobachten. Wo sind die Bürgerbewegungen, ob national oder paneuropäisch? Die treibenden externen Faktoren für ein Aufbegehren könnten kaum stärker und offensichtlicher sein und hören auf so apokalyptische Namen wie: „Wirtschaftskrise“, „Institutionskrise“ oder „Repräsentationskrise“. Ob Genügsamkeit, Überforderung oder Entsolidarisierung als Erklärung herhalten können, sei dahingestellt. Ohne zu übertreiben, könnte man vom „Ohnmachtsbürger“ sprechen.

Diese dystopische Ernüchterung tritt freilich nur ein, wenn der suchende Blick lediglich große, soziale und medienkompatible Bewegungen zu vernehmen mag. Auch wenn es wie eine Binsenweisheit klingen mag, dass aufbegehrende Zusammenschlüsse kaum mehr entlang von klassischen gesellschaftlichen Kategorien, wie der Arbeiterklasse, funktionieren (die offene Entsolidarisierung mit dem Streik der Lokführer ist nur der jüngste Hinweis), gibt es eine erstaunliche Leerstelle im nächsten analytischen Schritt. Wenn Zusammenschlüsse sich vielmehr entlang multipler Identitäten ergeben die ad-hoc hierfür protestieren und spontan gegen was anderes demonstrieren (opponierende Hooligans, motiviert durch den Wunsch nach Trennung von Staat und Kirche, sind nur der jüngste Hinweis) ist es geboten die Perspektive zu wechseln.

Entschleunigung aus der Vogelperspektive

Nehmen wir den weißen Fleck, der ganz großen Organisationsformen auf der Karte der Bürgerbewegungen einmal hin und verinnerlichen eine Vogelperspektive, dann entschleunigen sich Bewegungen aus der Draufsicht. Richtungen der Bewegung werden erkennbar, sich gemeinsam bewegende oder aufeinander prallende Gruppen werden frühzeitig wahrnehmbar und spontane Zusammenschlüsse ersichtlich. Aus der Perspektive von „Slow Politics“, der Wahrnehmung von unzähligen europäischen Bürgerbewegungen, ließe sich gar von einer Renaissance der Bewegungen sprechen.

Diese Perspektive eingenommen, kann auch die Fokussierung auf traditionelle Gradmesser des Erfolgs für soziale Bewegungen überwunden werden. Nicht nur Großorganisationen sondern auch Netzwerke wirken, nicht nur öffentlichkeitswirksame Kampagnen, sondern subtile Erweiterungen des Denk- und Sagbaren wirken, nicht nur die direkte und formale Adressierung an politische Akteure, sondern die Ermöglichung von gelebten Alternativen wirken.

Auffällig ist, dass die neuen und ihrer Vielfältigkeit kaum wahrnehmbaren Organisationen, eher projektorientiert, weniger homogen, weniger ortsgebunden, flacher organisiert, tendenziell spontaner und radikaler Forderungen formulieren und Formen der Kommunikation jenseits der Repräsentation von Masse nutzen.

Mangel an öffentlicher Debatte

Allerdings scheint es bisher an einer öffentlichen Debatte über die Bewegungen als Ganzes zu mangeln. Diese Debatte müsste zwei Ziele verfolgen: Ein analytisches und dabei verstehen wollen, was die Bewegungen ausmachen, und ein normatives und dabei eine Solidarität zwischen den Bewegungen ermöglichen. Die Fragen, die es zu beantworten gilt, sind gleichermaßen vielfältig, wie eigentlich schon bekannt: Was sind neue Formen der Bürgerbewegungen? Was sind Elemente die Bewegungen zusammenhalten? Was haben diese Bewegungen gemeinsam? Wie können Organisationen zusammen arbeiten? Wie können soziale und politische Bewegungen nachhaltig arbeiten, angesichts immer schnellerer Zyklen von Krisen, angesichts von beschleunigter Skandalisierung und kürzeren Aufmerksamkeitsspannen für politische Probleme?

Am Anfang steht jedoch die Frage: Was ist eigentlich in einer individualisierten und polyidentitären, post-demokratischen und -ideologischen, digitalisierten und globalisierten Zeit überhaupt noch ein großes, solidarisches „Wir“, was treibt dieses „Wir“ als Bewegung an und auf welche Werte kann sich dieses „Wir“ verständigen?

Die Werte für die eingestanden wird, sind teils erstaunlich abstrakter Art. So hat das kontraintensionale Streben nach „Commons“, Gemeingütern, eine verblüffende Einigungskraft für unterschiedlichste Debatten. Ob bei Persönlichkeitsrechten und der staatlichen (WS „We Are All Migrants“) und privatwirtschaftlichen (WS „After-NSA-Gate“) Verfügung über eigene Daten, der Suche nach alternativen ökonomischen Modellen jenseits von Staat und Wirtschaft wie selbstverwaltete Genossenschaften für Bürger-Energie oder kollaborative Teilungspraxen (WS „Bitcoin Meets Blue Marble“) oder einem offenen Zugang zu Informationen, die als öffentliche Güter verstanden werden („Snowden-Allmende“, WS „Publics in Perils“).

 

Der Workshop „We Are All Migrants“ fokussierte sich hierbei auf das Phänomen der emigrierenden südeuropäischen Fachkräfte und verknüpfte zu diesem Thema eine Datenbank zu Migration mit individuellen, aus einem Crowdsourcing-Projekt gesammelten Stories. „After NSA-Gate“ widmete sich der Sicherheit im Netz bzw. stellte Alternativen (z.B. kinko.me) vor, wie User ihre Privatsphäre im Web schützen können. In „Bitcoin Meets Blue Marble“ kamen Vertreter von Bürgerbewegungen aus dem Bereich der Sharing Economy und der digitalen Währungen zusammen und Interviews zur Frage „Sind wir alle Teil einer größeren Bewegung?“ wurden zu einem Kurzfilm gebündelt. Schließlich wurde im WS „Publics in Peril“ ein Policy Paper entwickelt, dass Lösungsansätze zeigt, wie die Snowden-Akten in Form eines Buches in die öffentliche Bibliothek gelangen und somit zugänglich für die Allgemeinheit werden könnten.

Trotz Buch der Bürgerrechte kein Aufschrei

Auch der Kampf für die vermeintlich unanschauliche digitale Freiheit, eint unterschiedlichste Gruppen, auch wenn diese von einigen als eine versprengte „Hobby-Lobby“ der digitalen Gesellschaft beschrieben wird, die trotz einmaliger Chance allgemeiner Echauffierung keine Massenmobilisierung herstellen kann. Auf die Frage, woran es liegt, dass einerseits Bürgerrechte in der digitalen Welt in den letzten Jahren und insbesondere in den letzten Monaten diskursiv an Bedeutung gewonnen haben, und andererseits angesichts des massenhaften Bruchs dieser Bürgerrechte, die im Chor aufschreiende Stimme aus der Mitte der Gesellschaft stumm bleibt, scheint es bis jetzt keine befriedigende Antwort zu geben.

Es hilft, nach der Vogelperspektive zum Landeanflug anzusetzen und bei Konferenzen wie „Slow Politics“ nachzuspüren, was das „Ich“ im großen „Wir“ mit anderen „Ichs“ bewirken kann.

Während die Schotten zur digitalen Freiheit vor Snowden dicht scheinen, schaufeln sich Programmierer und die normalen „User“ im Workshop ihren eigenen NSA-Gate und erarbeiten ein Manual zur Verschlüsselung der eigenen digitalen Kommunikation (Email, Browser, Chat etc.). Während Politik und Medien die Snowden-Files unter Verschluss halten, diskutieren Bibliotheksaffine und Medienwissenschaftler über eine konkrete Buchpublikation unter Creative Commons. Während mediale Erzählungen von Migration in Europa sich stets am tragischen Einzelschicksal entlang hangeln, generieren zivilgesellschaftliche Organisationen valide Daten über Migrantenströme und ermöglichen eine auf Transparenz fußende Debatte. Während die Inwertsetzung letzter Lebensbereiche durch Sharing-Economy-Geschäftsmodelle beklagt wird, schließen sich Bürger zu einem scheinbar aussichtslosen Unterfangen zusammen und stehen kurz vor dem genossenschaftlich organisierten Rückkauf der Daseinsfürsorge.

So begreift sich der Name „Slow Politics“ auch als ein Warnschild: Solange politische und wirtschaftliche Umsetzungen in ihrer Zähigkeit auf sich warten lassen, bohren die neuen „Ungeduldbürger“ stückweise selbst schon die harten Bretter. Wie lange dieses neue „Wir“ in „Slow Politics“ braucht, um die Stimme der Mitte der Gesellschaft lauter werden zu lassen, bleibt noch unklar. Eine gelegentliche Vogelperspektive hilft aber, um Richtung und Ziel nicht aus dem Blick zu verlieren.

Auf der Berlin Gazette Conference 2014 wurde über das Thema „Slow Politics“ diskutiert. Hier findet ihr die Ergebnisse.


Image (adapted) „SLOW POLITICS“ by Berliner.Gazette (CC BY 2.0)

 


 

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