Jetzt ist es passiert. Endlich hat sich einer der promovierten Qualitäts-Journalisten (ex-Cicero) aufgemacht und den Schwaben – nicht den Stuttgartern (sic) – mal die fundierte Meinung um die Ohren gehauen:„Die Schwaben nerven einfach nur noch.“
Er zitiert sogar eine ungenannte Quelle, die sich möglicherweise als kleiner Mann oder gar Brummen im Ohr herausstellen kann:
„Das müsse jetzt sein, denn Stuttgart 21 ist ein Projekt der herrschenden Klasse.“
Er erklärt das Phänomen #s21 oder präziser #k21 (ich fürchte auch das kennt er nicht) mit dem Neid der Schwaben auf die Posten der Entscheider bzw. willfährigen Beamten, die bei den Planfeststellungsverfahren ihr redlich Brot verdienten. Aber es kommt noch viel profunder und noch besser recherchiert:
„Als man ein Mandat hätte erwerben können (kann in Deutschland jeder), da haben sie sich in die Büsche geschlagen. Man steht nämlich schnell allein da im Wahlkampf, als Mandatsträger. Man muss zeigen, was man kann. Es wird schnell offenbar, wenn man nichts kann.“
Da hat er recht, es ist praktisch nie jemand anwesend, der ein politisches Amt, eine Parteimitgliedschaft oder gar ein ehrenamtliche Tätigkeit vorweisen kann. Wieso auch. Das wäre ja noch schöner, wenn sich der von Berufspolitikern vertretene Souverän zu einer eigenen Meinung aufschwingen würde. Da gehen gerade die Pferde mit mir durch: Es ist ja nur der Neid auf die tollen Posten in der Verwaltung: „Jetzt stehen die Gscheitles vor dem Gelände des Stuttgarter Hauptbahnhofs und erklären die Welt. Da sind sie, die schon immer die besseren Politiker, Planfeststellungsmenschen, Geologen, Schaffner und weiß Gott was alles gewesen wären. Sie nutzen die fiese demagogische Kraft der Masse, um sich an denen abzuarbeiten, die auf den Posten sitzen, auf denen sie sich gern wähnten.“…
Lieber Herr Dr. Dr. Görlach, ein kurzes Proseminar: Demagogen waren ursprünglich angesehene Redner und Führer des Volkes, also Einzelpersonen. Erst im 17. Jahrhundert wurde dieser ehemalige Ehrentitel von absolutistischen Herrschern für Personen genutzt, die das Volk in positiver Weise über die englische Revolution aufklärten. Später jedoch wurde wieder die ursprüngliche Wertschätzung eines Redners mit diesem Begriff assoziiert bis dann im 20. Jahrhundert der uns geläufige Gebrauch des Begriff als Ideologisierung der Massen durch den Einsatz der Massenmedien ins Stammbuch der Postmoderne geschrieben wurde.
Es ist gelinde gesagt verwunderlich, einer Masse eine demagogische Kraft zuzuschreiben.
„Die Bevölkerung des Bundeslands, das sich stets mit den benachbarten Bayern um die besten Werte bei Wohlstand, Sicherheit und Bildungsstandards kabbelt, kann echt vieles behaupten, aber nicht, dass sie schlecht regiert wird. Also: Was wollt ihr eigentlich?
Ich möchte wirklich eine Antwort auf diese Frage! Was ist der Plan? Was passiert, wenn Stuttgart 21 nicht kommt, die Landesregierung abgewählt wird? Was ist die Agenda, gegen was seid ihr dann? Beziehungsweise: Für was steht ihr dann ein? Mit Basisopposition ist kein Staat zu machen. Mit Basisdemokratie, das sieht man jetzt ganz deutlich, auch nicht.“
Lieber Herr Redaktionschef des European, so von einem Online-Magazin zum anderen: Meine kollegiale Achtung würde sicher steigen, wenn ich den Eindruck bekäme, dass Sie sich mit den Themen Transparenz gegenüber der Politik (Verkehrsausschuß) und den Bürgern, gegenüber dem Thema Kosten, gegenüber dem Thema Stadtentwicklung und Grundstücksverkäufe (fester Kosten trotz geologischer Unberechenbarkeit), gegenüber dem Thema Nutzen für überregionale und regionale Verkehrskonzepte zumindest soweit befasst hätten, dass Ihre Schwabenbeschimpfung wenigstens in Ansätzen Substanzielles enthielte. Man kann sicher vielen Beteiligten vieles vorwerfen, aber dem schwäbischen Neid auf die Entscheider die Ursache der Demos zuzuschreiben, halte ich für ähnlich sinnvoll wie den Muslimen die 20jährige Radikalkur bei den Sozialausgaben unterzujubeln.
Aber vielleicht irre ich mich. Vielleicht war es ja nur noch mal ein Schnelles „Das-Thema-nehmen-wir-jetzt-auch-noch-schnell-mit“. Dann sei der jungen Redaktion die heiße Nadel ohne Zeit für Recherche verziehen. Oder ich bin drauf reingefallen, und alles war nur eine Parodie ab dem Zeitpunkt wo einer die mangelnde Recherche anprangert?
Eben ein echter Quantitätsjournalist.
Bildnachweis: cymaphore
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Schlagwörter: eurpean, journalismus, k21, Qualitätsjournalismus, s21
4 comments
Das muss wohl dieser berühmte „Qualitätsjournalismus“ sein, von dem man derzeit so viel hört.
Der werte Herr Journalist von der international klingenden Postille hat sehr sauber und informativ alle Fakten auf den Tisch gelegt. Wir wissen jetzt alles über ihn.
Lieber Herr Wittkewitz,
besten Dank Ihnen für die Beschäftigung mit meinem heutigen Editorial.Parodie? Der Leitartikel hatte sicher auch gloassarische Nuancen, falls Sie das meinen.
Das Thema nehmen wir mal schnell mit? Hier muss ich Sie enttäauschen. Die Debatte läuft in unserem Magazin schon eine ganze Weile: http://www.theeuropean.de/debatte/4238-stuttgart-21
An meine Zeit als Kolumnist für Netzpiloten denke ich übrigens sehr gerne zurück.
Herzliche Grüße
Ihr
Alexander Görlach
Ein ganz kurzer Abriss über die zwei bis drei Ungereimtheiten von s21 finden Sie hier: http://www.spiegelfechter.com/wordpress/4247/stuttgart-21-der-bahnhof-den-niemand-will-und-niemand-braucht
Sollten Sie mehrere der seltsamen Gegebenheiten aufklären können, vor allem dafür sorgen können, dass wenigstens die Mitglieder des Verkehrsausschusses des Bundestags Überblick über alle Details erhalten oder ähnlich demokratieähnliche Prozesse einleiten, dann können sie gern weiter auf den Stuttgartern rumhacken. Einstweilen halte ich diese Tugend des zivilen Ungehorsams gegenüber zwielichtigen und verdeckten Projekten mit einem zweistelligem Milliardenausgang für das Gebot der Volkswirtschaft. Denn sie heißt nicht Herrenknecht-Wirtschaft und auch nicht INSM-Wirtschaft. Herr Herrenknecht findet im Südwesten sicher noch einige Städte, wo er schöne Tunnels bohren kann zum Beispiel Staufen im Breisgau…