Führen wir in Deutschland die richtigen Diskussionen, wenn es um Digitalisierung und die Herausforderungen der kommenden Jahre geht? Diese Frage diskutierten rund 150 Teilnehmer auf der Zukunftskonferenz D2030 und in den begleitenden FutureHubs-Diskursen im Vorfeld der Berliner Tagung. Vieles geht an den Menschen vorbei. Ein breit angelegter gesellschaftlicher Austausch findet nicht statt. Entweder ist er wie beim NewWork-Geklingel zu elitär angelegt oder er findet gänzlich hinter verschlossenen Türen statt, wie bei den CETA- und TTIP-Verhandlungen.
Bringschuld für das Neue
Medien, Politik, Wirtschaft und soziale Initiativen haben aber eine Bringschuld des Neuen, sagte Professor Jutta Allmendinger, Präsidentin des Berliner Wissenschaftszentrums für Sozialforschung (WZB). Das müsse mit einer viel größeren Ernsthaftigkeit und mit einem viel größeren Respekt gegenüber den Menschen ablaufen. „Uns fehlt die Ernsthaftigkeit des ordentlichen Diskurses“, kritisiert Allmendinger. Es fehlt vor allem der Blick auf die Herausforderungen, die in der Agenda 2030 der Vereinten Nationen und im Pariser Klimaabkommen stehen, sagt Professor Dirk Helbing von der ETH Zürich. Der Planungshorizont von 13 Jahren ist dabei geringer als beim Bau einer neuen Straße. Wenn wir eine kohlenstoffarme Wirtschaft mit einer Reduktion des Kohlendioxid-Ausstoßes um 40 bis 50 Prozent erreichen wollen, muss die Organisation der Volkswirtschaften neu erfunden werden.
Zwei Tage #D2030 Zukunftskonferenz in 45 Minuten
Kompakte Zusammenfassung der #D2030 Zukunftskonferenz
Posted by Ichsagmal.com-Gespräche on Montag, 10. Juli 2017
Nachhaltigkeit braucht richtige Innovationen
Und das gelingt nur mit der Einbeziehung der Zivilgesellschaft. „Soll der Staat das alles regeln und Ressourcen als wohlwollender Diktator zuweisen? Das ist ein Szenario, was wir nicht haben wollen. Wenn wir in Zukunft in Freiheit und Demokratie leben wollen, dann müssen wir das Nachhaltigkeitsproblem anders lösen“, betont Helbing in Berlin. Das gelingt nur mit echten Innovationen und nicht mit dem Wahn der Optimierung. Und Innovationen brauchen Freiheit, sie brauchen einen Strukturwandel und eine Veränderung des Wirtschaftssystems.
Transformation ohne technokratischen Weihrauch
„Das gelingt nur mit einer gesellschaftlichen Organisation im partizipativen Sinne. Wir können das nur gemeinsam bewältigen“, erläutert Helbing. Hier ist eine viel größere Transformation zu bewältigen, die über den digital-transformatorischen Weihrauch hinausgeht, der von selbst ernannten technologischen Evangelisten auf Gadget-Niveau verbreitet wird. Die ganze Gesellschaft und nicht nur ein Kreis von Eingeweihten muss befähigt werden, diesen Kraftakt innovativ zu bewältigen. Dafür braucht man Labore für die Zivilgesellschaft, Städteolympiaden, Open Innovation und eine Kompetenzoffensive für den Einsatz von digitalen Werkzeugen. Nicht morgen, sondern heute. „Dafür ist eine neue Art des Denkens, der Kultur und des Zeitgeistes für die gewünschten Szenarien erforderlich. Sie müssen in Geschichten übersetzt werden, die uns helfen, von dieser Zukunft zu träumen. Das muss sich in unseren Köpfen wie ein gutes Musikstück festsetzen. Etwas, was uns voranträgt. Da müssen auch Kunst und Kultur aktiviert werden, dass das für alle Menschen vorstellbar wird“, fordert Helbing.
Von der Reparaturökonomie zur Orientierungswissenschaft
Hausaufgaben hat zudem die Wirtschaftswissenschaft zu machen: Vonnöten sei eine transformative Ökonomie, die sich von ihren Rechtfertigungserzählungen löst, erläutert Professor Uwe Schneidewind, Präsident des Wuppertal-Instituts. Sie müsse sich von einer Reparaturökonomie zur Orientierungswissenschaft weiter entwickeln:
„Plötzlich haben wir mit Null-Grenzkosten-Produkten und Produktivitätssprüngen zu tun, die das Maß vorangegangener technologischer Metamorphosen deutlich übertreffen. Jetzt würde man sich eine Ökonomie wünschen, die dazu Antworten entwickelt. Wie organisieren wir unseren Sozialstaat, was passiert mit der Geldwirtschaft im Zeitalter von Bitcoin, wie finanziert sich der Staat? Wo sind die Ökonomen als öffentliche Intellektuelle? Sie verkriechen sich lieber in ihren Boxen und machen tolle Experimente und wundern sich über die zunehmende Kritik an der Visionslosigkeit der Wirtschaftswissenschaften.“
Ethos ganzer Systeme
Reinhard Pfriem spricht im Interview, das auch auf Facebook nachzuschauen ist, zu Recht von der Ökonomie als Möglichkeitswissenschaft, um Szenarien für die Zukunft zu entwerfen.
„Es gibt immer noch zu viele Sandkastenökonomen Mein akademischer Lehrer Peter Ulrich hat das mal so schön gesagt: Wir brauchen ein Ethos ganzer Systeme. Wir müssen das immer auf einer höheren Ebene beurteilen“, so Lutz Becker, Studiendekan der Hochschule Fresenius. Gleiches gelte auch für die Politik, sagt der Ökopionier und Unternehmer Jörg Heynkes in der FutureHubs-Diskursreihe. „Es wird zwar von einer vierten industriellen Revolution gesprochen. Man ist ständig darum bemüht, das abzuleiten, was bei den vergangenen Ereignissen passiert ist. Eine ernsthafte Auseinandersetzung über das, was in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren auf uns zurollt, findet nicht statt.“
Das Notiz-Amt sieht die Notwendigkeit für weitere überparteiliche Dialog-Formate. Die Initiative D2030 sollte weitermachen.
Image (adapted) „business“ by mhouge (CC0 Public Domain)
Artikel per E-Mail verschicken
Schlagwörter: Auseinandersetzung, Austausch, D2030 Zukunftskonferenz, digitalisierung, Nachhaltikeit, Orientierunswissenschaft, Reparaturökonomie, Transformation, transformative Ökonomie, Zivilgesellschaft
4 comments
Professor Helbing überrascht mich positiv.
Und dann geht es an vorderster Front darum, Menschen aus Fleisch und Blut mit ihren Ängsten, Sorgen und Abwehrreflexen behutsam auf den Weg zu nehmen. Berührungsängste abzubauen durch empowerment. Raus aus den etablierten Diskursen und PingPong-Sprachspielen, die einen fast notwendigen Einschluss- und damit Ausschlusscharakter haben. Die Zukunft wird nur dann eine Sache aller, wenn die sich auch da drin sehen: im Prozess, im Suchen, im Gelingen. Ansonsten zementieren wir die gegenwärtigen Schichtungen unseres Gesellschaftssystems auf perfide Weise.
Ich muss ehrlich sagen, wie die Initiative D2030 jetzt weitermachen will, hat sich mir auf der Konferenz in Berlin nicht so richtig erschlossen. Es steht im September eine Bundestagswahl an. Da müßte man mit voller Verve jetzt in die politische Arena rein gehen: Zukunftsanhörungen mit den Kandidaten, Zukunfts-Analyse der Wahlprogramme etc. Aber der 24.9. war ein Non-Event auf der Tagung. Meine Aussage vom ersten Tag, dass die Zukunftsvorbereiter bei den heutigen Verhältnissen unter einen enormen Zeitdruck stehen, worauf Klaus Burmeister nur ausweichend replizierte, wurde am zweiten Tag von Dirk Helbing erneut betont, leider als einzigem. D2030 „sollte weitermachen“, schreibt Gunnar. Aber 1. wie? und 2. schnell.