Warum ungelesene Artikel ein Segen statt Fluch sind

Berge von ungelesenen Artikeln setzen uns konstant unter Druck – doch warum wollen wir diese eigentlich komplett abarbeiten? Es geht doch auch anders. Die “Reading-List Zero” ist eine abgewandelte Idee von der Zero Inbox, also dem aufgeräumten E-Mail-Postfach, in dem alle E-Mails abgearbeitet sind und uns so nicht mehr unbewusst unter Druck setzen. Diese Idee wurde auch auf Read-it-later-Dienste wie Pocket oder Instapaper übertragen. Hier sollen also die Artikel, die dort gespeichert sind, auch alle durchgelesen werden und das möglichst zeitnah. Der dadurch entstehende Druck ist aber unnötig, vielmehr sollten wir uns über das Überangebot spannender Artikel freuen und es als Geschenk an uns selber sehen.

Leselisten und kein Ende

Seit einigen Jahren nutze ich inzwischen Read-it-later-Dienste wie Pocket und Instapaper. Anfangs war die Idee noch, Artikel zu speichern, für die ich während der Arbeit keine Zeit habe. Über die Jahre habe ich alle nur erdenklichen Artikel dort angesammelt, weil das auch so herrlich einfach ist – für Chrome gibt es Erweiterungen und Bookmarklets, auf dem Mobiltelefon und Tablet die jeweiligen Apps und selbst aus Flipboard heraus kann man Artikel direkt bei Instapaper oder Pocket speichern. Doch ich habe ein Problem nicht bedacht, nach der Arbeit, für die ich viel lesen muss, habe ich wenig Lust auf eine lange Liste mit weiteren Artikeln auf einem Bildschirm zu starren. Inzwischen sammeln sich bei den verschiedenen Diensten mehrere Hundert, wenn nicht sogar Tausend Artikel – die genaue Anzahl ist schwer zu beziffern, da ich bei beiden Diensten keine Zahlen finden konnte. Doch eines Tages werde ich die Zeit finden, sie zu lesen. Ganz sicher. Oder? So langsam keimen in mir dann doch Zweifel daran auf. Wie soll man das denn eigentlich schaffen?

Ich habe verschiedene Ansätze versucht. Zunächst habe ich Pocket und Instapaper verschiedenen Zwecken zugeteilt. Bei Pocket landen vor allem Artikel, die für meine Arbeit relevant sind, während bei Instapaper Artikel geparkt werden, die ich privat spannend finde. Dementsprechend landen bei Pocket deutlich mehr zeitsensitive Artikel, die nach kurzer Zeit obsolet sind und die ich wieder löschen kann. Aber immer wieder landen dort auch Artikel, die später noch Verwendung finden könnten, oder die mich für die Arbeit zwar interessieren, die aber nicht direkt für einen Artikel Verwendung finden. Die Chrome-Erweiterung Time to Read verpasst jedem Pocket-Artikel einen Tag mit der geschätzten Lesedauer. So kann man also immerhin schon mal die kurzen Artikel herausfiltern und schnell abarbeiten.

Für Instapaper habe ich mir inzwischen eine Premium-Mitgliedschaft gegönnt, damit ich die unendlich vielen Markierungen hinzufügen und den Speedreading-Modus nutzen kann. Letzterer lässt die Wörter in der gewünschten Geschwindigkeit an einer Stelle des Bildschirms durchlaufen. Tolle Idee, an die man sich auch schnell gewöhnt, doch wenn ich ehrlich bin, hat sie bisher nicht geholfen, meine Leselisten signifikant zu minimieren. Genaugenommen sind beim Verfassen des Artikels schon wieder 6 neue Artikel hinzugekommen. Auch die Idee alte Artikel, die tendenziell irrelevant geworden sind, herauszufiltern und zu löschen, hat kein spürbares Ergebnis gebracht. Ich kann immer noch endlos durch die Listen scrollen, ohne am Ende anzugelangen. Und die ganze Zeit habe ich das Gefühl gehabt, die Situation unter Kontrolle zu bekommen und die sogenannte “Reading-List Zero” zu erreichen.

Mythos “Reading-List Zero”

Ähnlich wie die Zero-Inbox, also ein komplett abgearbeitetes E-Mail-Postfach, beschreibt die Reading-List Zero eine vollständig abgearbeitete Leseliste. Doch wieso habe ich verzweifelt an diesem Ziel festgehalten, wenn ich doch offensichtlich nicht in der Lage bin, annähernd so viele Artikel zu lesen, wie ich für später speichere? Vielleicht, weil ich an einer leichten Ausprägung des Messie-Syndroms leide und diese Veranlagung nun in mein Online-Leben vordringt. Vielleicht… aber das ist sicher nicht der einzige Grund und schlimm ist es eigentlich auch nicht, wie mir kürzlich aufgefallen ist. Bisher habe ich mich selber ziemlich stark unter Druck gesetzt, die Reading-List Zero zu erreichen, doch dieser Druck ist völlig unnötig, denn die Reading-List Zero ist gar kein so erstrebenswerter Zustand, wie ich dachte.

Immer wieder, wenn ich auf Reisen und gezwungenermaßen Offline bin, bemerke ich, dass ich in diesen Situationen sehr viel mehr in den jeweiligen Apps lese. Längst nicht so viel, dass ich die Listen abarbeiten könnte, aber es ist ein schönes Gefühl, dass ich einen nahezu unerschöpflichen Fundus an interessanten Artikeln, Reportagen und Tutorials zur Hand habe, wenn mir danach ist. Das Schöne daran ist, dass mich die meisten dieser Artikel auch wirklich interessieren – kein Wunder, denn schließlich habe ich die Listen ja selber für mich kuratiert und wer kennt mich und meine Interessen besser als ich? Die bisherigen Algorithmen der News-Reader Apps und Social Networks liefern zwar immer wieder mal Zufallstreffer, aber verlassen möchte ich mich trotzdem nicht auf sie. Ich habe also beschlossen, den Druck alles abarbeiten zu müssen, zu ignorieren und zu akzeptieren, dass ich die Leselisten niemals vollkommen abarbeiten werde. Dafür habe ich aber immer spannende Texte zur Hand, wenn ich mal in Leselaune bin.


Image (adapted) „Readability on the iPad“ by Sebastien Wiertz (CC BY 2.0)


ist Wahl-Berliner mit Leib und Seele und arbeitet von dort aus seit 2010 als Tech-Redakteur. Anfangs noch vollkommen Googles Android OS verfallen, geht der Quereinsteiger und notorische Autodidakt immer stärker den Fragen nach, was wir mit den schicken Mobile-Geräten warum anstellen und wie sicher unsere Daten eigentlich sind. Mitglied des Netzpiloten Blogger Networks.


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2 comments

  1. Genau so könnte es gehen. Wir sollten weniger an Listen arbeiten und viel mehr an uns. Was Du hier beschreibst ist der vollzogene und scheinbar geglückte Prozessmusterwechsel. Das gelingt nicht jedem. Nicht an einem einzigen Tag.

    Technisch gesehen könnte man das mit Evernote verknüpfen. So erhalte ich viele E-Mails mit Presseinformationen, die mich potenziell interessieren, die ich aber nie alle lesen könnte und die ich jetzt automatisch an Evernote übergebe und mir jetzt Kontext sensitiv eingeblendet werden, wenn ich recherchiere. Oder ich brauche eine Idee und schaue direkt ins Evernote.

    Persönlich muss man wohl begehen, dass der Wert des Immateriellen nicht angehäuft werden kann. Was Du beschreibst hängt am alten Paradigma, alles auf der eigenen Festplatte im Kopf haben zu wollen. Und im Bücherschrank. Diese Annahme passt nicht mehr zum neuen Umgang mit Information. Das daraus durchaus Wissen generiert werden kann, versteht sich.

  2. Es ist genau dasselbe Problem wie mit den einstigen „Bookmarks“, die man sammelte und nie wieder ansah – wann denn auch?

    Ich empfehle: das Leben so einrichten, dass man interessante Artikel SOFORT lesen kann.

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