Eine Milchstraße von Einfällen werden die Texte und Aufzeichnungen aus dem Nachlass des Schriftstellers Jean Paul bezeichnet. Keine ordentlich gekämmten Maximen oder Aphorismen zur Lebensweisheit, sondern ein blühendes Durcheinander von Ideen, Beobachtungen, Skizzen und Parabeln. Ein blühendes Durcheinander registriert das Notiz-Amt vor allem im Netz. Auch wenn es neunmalkluge Ratschläge gibt, wie man im Internet erfolgreich operieren soll, so dominiert doch das Zufallsprinzip. Man schmeißt eine Flaschenpost ins unendliche Meer des Cyberspace und weiß am Ende nie genau, was mit der maritimen Botschaft geschieht.
Im heterogenen Netz der Possen
Heterogene Netzwerke treten an die Stelle der eher homogenen Funktionssysteme, wie wir sie von der modernen Gesellschaft kennen. Wir bekommen es mit unwahrscheinlichen Clusterbildungen, mit seltsamen Verknotungen von Geschichten, Milieus, Leuten und Organisationen zu tun, mit Possen, die die Gesellschaft durchkreuzen, ohne dass man wüsste, woher sie kommen und wohin sie verschwinden. Die Unberechenbarkeit ist ein steter Begleiter im virtuellen und realen Leben. Was bedeutet das für Projekte sowie für Organisationen der Wirtschaft, Gesellschaft und Politik? Man muss wohl mehr moderieren und weniger dirigieren.
Ehrenworte und fehlende Selbsterkenntnis
Viele Führungskräfte scheitern nicht am mangelnden Fachwissen, bemerkt der frühere Telekom-Personalvorstand Thomas Sattelberger im Interview mit dem Stifterverband. Sie scheitern an Egozentrik, an fehlender Selbstreflexion, überzogenen Versprechungen, die man nicht einhalten kann und an geistigem Silodenken. Man konnte das an dem Ehrenwort-Pressestatement des ehemaligen VW-Konzernchefs Martin Winterkorn förmlich an den Augen ablesen. Seine Teleprompter-Rhetorik schrumpfte auf das Niveau der Hilflosigkeit.
In Schönwetterzeiten inszenieren sich solche Top-Manager als Macher. In Krisen erkennt man ihre Zwergengestalt. Deshalb traut sich kaum ein Vertreter des Elitesystems ohne Absicherung auf Social Web-Plattformen. Dort funktioniert das Teleprompter-Blabla nicht mehr. Die Spitzenleute in Unternehmen, Parteien, Behörden und Ministerien werden systematisch abgeschirmt, um nur nicht mit den Untiefen der Öffentlichkeit konfrontiert zu werden. Wer den offenen Dialog wagt, wie der Lebensmittelkonzern Nestlé, ist damit aber noch lange nicht aus dem Schneider.
Wenn Führungskräfte mit der Realität konfrontiert werden
Mit der PR-Aktion #FragNestle ist unsichtbares jetzt sichtbar geworden, führt Soziopod-Blogger Patrick Breitenbach in einem Beitrag für Lead Digtial aus. Ein harter Realitätsabgleich für Führungskräfte im Elfenbeinturm: “Denn ironischerweise hält Nestlé sich durch diese Aktion nicht nur selbst den Spiegel vor, sondern vor allem auch seinen Milliarden von Konsumenten. Niemand kann später sagen: ‚Mimimimi, aber wir haben von all dem nichts gewusst.’ Weder der Vorstand, noch der mittlere Manager, noch die Einkäufer, die Lieferanten oder eben die Käuferinnen und Käufer. Die erste Schutzhülle der Unternehmensblase wurde damit angepiekst”, so Breitenbach. An dieser Rosskur führt aber kein Weg vorbei, um neue Wege einzuschlagen.
Wie man aus der Jauche rauskommt
Die Büchse der Pandora ist geöffnet, schreibt Breitenbach: “Das Unternehmen hat seine Tür geöffnet und die eigene fabrizierte Scheiße in seinen Flur einlaufen lassen, obwohl sie diese Tür nicht hätte öffnen müssen. Und jetzt wird sich zeigen, was sie aus dieser Situation machen: In der Jauche stehen bleiben oder daran arbeiten, dass dieser Mist in Zukunft nicht mehr vorkommt.” Ähnliches hätte auch Winterkorn praktizieren können – ohne Teleprompter-Videobotschaft im Aufzeichnungsmodus. Das hat ihm wohl die PR-Agentur von VW oder die eigene Kommunikationsabteilung geraten. Aber auch diese Auftragslemuren stehen mit dem Rücken zur öffentlichen Meinung. Sie sollten Jean Paul lesen oder die Profession wechseln.
Image (adapted) „Socialbar Berlin“ by socialbar (CC BY 2.0)
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Schlagwörter: Führungskräfte, Macher, Social Media, unternehmen