In der Videokolumne geht es heute um Jerusalem, zu biblischen Zeiten und ganz aktuell. Dazu Schlingensief und ein einzigartiges Video-Archiv// von Hannes Richter
Alle Nachrichtenbilder aus mehr als 70 Jahren per Mausklick durchforsten, historische Ereignisse im Wohnzimmer auf Knopfdruck: Im grandiosen Youtube-Kanal der British Pathé ist das möglich. Oft genug stand Jerusalem im Mittelpunkt jener Nachrichten. Wie es dort heute aussieht zeigt die Dauer-Doku 24 Stunden Jerusalem – eindrucksvolles Fernsehen. In einer lustig-absurden Talkshowaufnahme erzählt Christoph Schlingensief von seinen Erfahrungen in Bayreuth. Und weil Ostern ist, gibt es auch Moses aka Charlton Heston in der Videokolumne.
BILDER VON DAMALS I: Menschen – Häuser
Alle paar Monate tauchen in den sozialen Netzwerken Links zu Videos mit historischen Stadtaufnahmen auf. Der persönliche Radius jedes einzelnen bestimmt wohl, aus welchen Städten oder Zeiten diese Aufnahmen stammen. Sicher gibt es auch aus Hamburg oder Köln solche Filmchen, von denen man als Berliner auf Grund eines vielleicht eher lokalen Freundeskreises wenig mitbekommt. Aus hauptstädtischer Perspektive kann man also nur spekulieren, welche Zeiträume seit der Erfindung des bewegten Bildes und welche Themen dort im Mittelpunkt stehen. In Berlin lässt sich das sehr gut eingrenzen: Meist handelt es sich um historische Aufnahmen aus den Goldenen Zwanzigern, nur echt mit Leuchtreklame und wahlweise Nachtclubtänzerinnen oder Stempelschlangen. Ein anderer Schwerpunkt liegt natürlich auf den allseits bekannten DDR- bzw. Mauerbildern. Gefühlt am häufigsten geteilt werden aber Aufnahmen aus dem Kreuzberg der 60er und 70er Jahre. Woher kommt das Interesse? Am ehesten ist es wohl die Veränderung des Bezirks vom Grenzgebiet und vergessenem Außenposten des Westens hin zum durchgentrifizierten Großstadtmekka und Absturzsumpf für Expats und Easyjetset. Eine ähnliche Faszination üben ja auch einige viel geteilte Videos aus dem Prenzlauer Berg tiefster DDR-Zeiten aus, wobei der Bezirk im Gegensatz zum roaring Kreuzberg seine besten Zeiten schon hinter sich zu haben scheint.
Doch viel, was Kreuzberg heute ausmacht, trotz seines Mauerblümchendaseins, war schon damals irgendwie angelegt. Die Befreiung vom Wehrdienst für junge Männer, die allerlei subversive Elemente aus Restwestdeutschlands angezogen hat oder die überwältigende multiethnische Bevölkerungsstruktur sind da nur die bekanntesten Faktoren. In diesem Dokumentarfilm aus dem Jahr 1983 geht es außerdem noch um die vielen Nicht-Berlinern unbekannten Autobahnpläne der 60er Jahre. Nahezu das gesamte Gebiet, das heute als urigster Teil Kreuzbergs gilt, sollte einer Stadtautobahn samt Kreuz und Zubringer sowie ausufernder Blockbebauung weichen. Die Rettung Kreuzbergs und damit des städtischen Biotops, aus dem ein aufregender Großstadtbezirk wuchs, gehört zu den spannendsten Geschichten und ist neben den faszinierenden Aufnahmen aus dem Stadtbild ein Highlight des Films.
STADT GANZ NAH: 24 Stunden Jerusalem
2009, wir planten gerade den Zuzug meines damaligen Freundes in die erste gemeinsame Wohnung, gab es keine bessere Vorbereitung auf sein Abenteuer Berlin: Filmemacher um den Dokumentarfilmer Volker Heise hatten für arte gerade eine Mammut-Doku gedreht, die so vorher noch nie gab: 24 Stunden Berlin. Einen ganzen Tag lang hatten sie mit einem Haufen über die Stadt verteilter Kamerateams das Leben in der Stadt und ein bisschen auch (eine große Leistung) das Lebensgefühl der Stadt eingefangen. Taxifahrer, Drag Queens, die sich auf den Auftritt vorbereiten, Hospizschwestern, Club-Kids, eine Neuköllner Sufi-Gemeinde – sie alle waren dabei in dem exakt ein Jahr später quasi zeitversetzt über 24 Stunden auf arte und im RBB ausgestrahlten, besonderem Reality-Format. Das Projekt schlug große Wellen, wurde allgemein positiv von der Kritik aufgenommen und hat über die Übertragung im Web neben meinem Freund wohl auch andere Menschen weltweit von Berlin begeistert (Orignalausschnitte und Rohmaterial der Doku lassen sich hier abrufen).
Letzten Sonntag lief auf arte nun das Nachfolgeprojekt 24 Stunden Jerusalem und im Mittelpunkt der Unmengen an Artikeln in Print- und Online-Medien stand anders als fünf Jahre zuvor eben nicht der Alltag der Menschen, jedenfalls nicht das, was man sich in westeuropäischen Städten als Alltag vorstellt. Es ging viel mehr um den Konflikt, um die Schwierigkeiten bei den Dreharbeiten in der geteilten Stadt. Die Macher mussten von ihrem Plan abrücken, gemeinsame Drehteams zu Drehorten in den palästinensischen und den jüdischen Teilen Jerusalems zu schicken. Zum Schluss wurde alles strikt getrennt gedreht. Sicher, bei der Auswahl eines Ortes für ein solches Projekt spielte auch genau diese besondere Situation eine Rolle, das geben die Macher auch in Interviews zu. Natürlich macht gerade der Konflikt Jerusalem zu einem der interessantesten Orte der Welt, auch weil jeder eine Meinung oder ein Bild darüber hat oder zu haben glaubt. Das ganze Drumherum verstellt aber nur den Blick auf das eigentlich Anliegen und den eigentlichen Gewinn für die Zuschauer, die sich über einen längeren Zeitraum in den Sog des Werks begeben. Denn es geht eben um den Alltag der Menschen, um das Kennenlernen der Menschen abseits der Schlagzeilen (oder mittendrin?).
Viel wurde auch kritisiert, dass die am Ende erzwungene Trennung der Dreharbeiten entlang der Grenzen zwischen den Bevölkerungsgruppen zu einer jeweils einseitigen Darstellung geführt hätte. Man hätte nur die Klischees transportiert, Stereotype ausgewählt. Aber steht denn die Drag Queen Gloria Viagra für Berlin oder sind die kreisenden Sufi-Tänzer symbolisch für alle Muslime in der Stadt? Nein, sie alle sind Berlin, aber Berlin ist auch viel mehr. Warum sollte das in Jerusalem anders sein? So sind die Protagonisten von 24 Stunden Berlin/Jerusalem eher Beispiele als Blaupausen, Begegnungen statt Botschafter. Aber damit kann der Filmmarathon auch viel mehr als das Fernsehen, das wir gewohnt sind. Er kann einem jungen Bosnier seine neue Heimat vorstellen und anderen die umstrittenste und in der Geschichte wohl berühmteste Stadt der Welt auf eine ganz neue Art und Weise näher bringen. Auf der eigenen Seite bei arte wird 24 Stunden Jerusalem, anders als üblich, für mehrere Wochen online zu sehen sein. Jede Stunde lässt sich einzeln anklicken.
BILDER VON DAMALS II: Einzigartiges Web-Archiv von British Pathé
Auch im Pathé-Archiv spielt Jerusalem eine wichtige Rolle. Eine Suche nur nach dem Namen der Stadt im neuen Youtube-Kanal bringt Unmengen Treffer. Das ist nicht nur ein Zeugnis für die herausragende Rolle Jerusalems in der Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sondern auch ein Hinweis auf die Besonderheit dieses einzigartigen Web-Archivs. Die British Pathé stand seit den 20ern für Nachrichten im Kino. Meist als Vorfilm wurden ähnlich wie bei den Wochenschauen in deutschen Kinos auch in jedem englischen Lichtspielhaus Zusammenschnitte der aktuellen Ereignisse gezeigt, von Kriegsberichten, Staatsbesuchen und Krönungen. All diese Aufnahmen machen das Archiv des einzigen Produzenten der sogenannten Cinema Newsreels zu einer Schatztruhe für Geschichtsinteressierte und, ohne zu übertreiben, zu einem einzigartigen visuellen Gedächtnis der Menschheit im Zeitalter der bewegten Bilder.
Nach dem mit Hilfe von Lottomitteln alle historischen Aufnahmen der British Pathé im Jahr 2002 digitalisiert wurden, wartete dieser Schatz nun 14 Jahre darauf, geborgen zu werden. Immer wieder gab es kleinere Serien von Veröffentlichungen oder DVD-Sammlungen. Anders als in Deutschland üblich, zeigten sich die Rechteinhaber auch sehr großzügig, was die Verwendung des Materials in historischen Dokumentationen anging. Doch was in diesem April passierte, ist beispiellos. Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit, besonders der hiesigen Medien- und Netz-News-Szene, hat die British Pathé ihr gesamtes Archiv online gestellt! (Dies ist wohl eines der ersten in diesem Blog je verwendeten Ausrufezeichen.) In Zusammenarbeit mit dem deutschen Internetfilmdienstleister Mediakraft entstand ein für jeden zugänglicher Youtube-Kanal. Hier finden sich alle historischen Aufnahmen, einfach durchsuchbar, die von 1896 (eine New Yorker Fire Brigade im Einsatz) bis 1976, als Kinonachrichten der Konkurrenz des Fernsehens nicht mehr gewachsen waren und die Firma ihren Dienst einstellte, entstanden sind. “Whether you’re looking for coverage of the Royal Family, the Titanic, the destruction of the Hindenburg, or quirky stories about British pastimes, it’ll be there on our channel. You can lose yourself for hours.” teilt der Geschäftsführer der British Pathé in einer knapp gehaltenen Pressemitteilung mit und hat damit das Osterwochenende des Kolumnisten passend umschrieben.
BAYREUTH-PROBEN: Schlingensief bei Gysi
Ein Video von Facebook wurde hier noch nie empfohlen. Zwar sind alle auf „öffentlich“ gestellte Videos auch für Nicht-Facebook-Mitglieder sichtbar, aber als Videoplattform taugt das geschlossene Netzwerk nicht wirklich. Diesmal muss es eine Ausnahme geben, denn was der Musikwissenschaftler und Autor Joachim Thalmann hier ausgegraben hat, muss man gesehen haben. Zumindest, wenn man aus einem Universum kommt, in dem die Namen Schlingensief und Wagner eine Bedeutung haben, idealerweise auch in einer wie auch immer gearteten Kombination. In dem leider nur auf Facebook hochgeladenen Video (wie gesagt, öffentlich, bitte anklicken!) erzählt Christoph Schlingensief dem amüsiert zuhörenden Gregor Gysi (es handelt sich wohl um eine Aufnahme aus seinem Live-Talk im Deutschen Theater) von seinen Erfahrungen als Regisseur bei den Proben zu seiner Bayreuth-Extravaganza Parsifal im Jahr 2004. Schwer zu beschreiben, ohne zuviel vorwegzunehmen, wie Schlingensief hier in seiner typischen Leichtfüssigkeit und in hohem Taktschlag den Mythos Bayreuth nur anhand einer kleinen Probenanekdote auseinandernimmt. In einem der für ein Video, das 1379 Mal geteilt wurde, recht wenigen Kommentare bemerkt jemand, dass er Gregor Gysi „noch nie nichts sagen“ sehen habe. Wenn das keine Empfehlung ist.
OSTER-SPECIAL: Die Zehn Gebote und mehr
Zurück zu Jerusalem. Oder zumindest Israel, genauer gesagt: den Israeliten, die von einem am Pharaonenhof aufgewachsenen Findelkind angeführt aus Ägypten ausziehen, das geteilte Rote Meer durchschreiten und im Sinai gemeinsam durchdrehen. Bis ein sichtlich gealterter Moses mit prophetenhaft gewelltem Bart ihnen die Zehn Gebote bringt, direkt von Gott als brennendem Busch diktiert. Seit 1956 sieht Moses aus wie Charlton Heston. Kein Ostern vergeht, an dem der Schinken aller Hollywood-Schinken nicht im Fernsehen läuft. Seit wenigen Monaten ist das komplette, nahezu drei Stunden lange Epos auch in kompletter Länge auf Youtube zu sehen.
Doch Ostern hält auch andere Spielfilme bereit, offenbar scheinen die Programmplaner der Fernsehstationen davon auszugehen, dass die ganze Familie die Feiertage lieber vor dem Fernseher verbringt als bei der Eiersuche oder vor dem Osterfeuer. Wer am extralangen und zumindest im Norden Deutschlands sonnigen Wochenende doch etwas anderes zu tun hatte, als vor der Glotze zu hängen, kann morgen nochmal hier vorbeischauen. In einem Videokolumne-Special gibt es Empfehlungen für die besten Oster-Spielfilme aus den Mediatheken der Sender.
Teaser & Image by Screenshot, http://www.youtube.com/user/britishpathe
Artikel per E-Mail verschicken
Schlagwörter: 24-Stunden, Bayreuth, berlin, Charlton Heston, Gentrifizierung, Gysi, Israel, Jerusalem, kreuzberg, mediathekentipp, Moses, Ostern, Schlingensief