Videokolumne vom 5. Januar 2014

In der ersten Videokolumne in diesem Jahr geht um die Godmother of Striptease, Intersexualität und Anders-sein sowie einen legendären Berliner Club. // von Hannes Richter

Es ist so eine Sache mit den Mediatheken und Videoplattformen: Für viele Digital Natives sind sie schon Fernsehersatz – vieles ist überall abrufbar, manches aber nur auf Zeit: Gerade die öffentlich-rechtlichen Programme in den Mediatheken der Sender sind oft nach einer Woche wieder offline. Verlängertes Fernsehen statt digitales Archiv. Bevor sie verschwinden, fischt Hannes Richter die besten Perlen des TV-Vielfalt aus den Online-Archiven und präsentiert sie in seiner wöchentlichen Kolumne.


WERTVOLL: Mein Leben zwischen den Geschlechtern

AUS DER MEDIATHEK – arte +++ vom 2. Januar, online voraussichtlich bis 9. Januar:
Außerhalb der Norm – was ist das eigentlich? Und wie geht man damit um, anders zu sein? Wo ich lebe, ist anders sein bis zu einem gewissen Grad akzeptiert oder sogar die Regel. Wenige schauen noch hinterher, wenn zwei Männer Hand in Hand die Straße runterlaufen. Wenn die Dame, die beim Späti gerade ein Bier holt, einen Dreitagebart hat, verwirrt das nur kurz. In anderen Teilen der Welt ist das anders – manchmal aber auch schon eine Ecke weiter. Auffallend ist, dass sich solche Grauzonen selbst in als toleranter geltenden Gesellschaften hauptsächlich in Lebensbereichen finden, in denen es irgendwie um das Unaussprechliche, also um das Sexuelle, geht.
Phoebe Hart hat eine sogenannte Androgenresistenz. Sie wurde in Australien als Mädchen aufgezogen. Sie fühlt sich weiblich, obwohl sie über männliche Geschlechtsmerkmale verfügt. Das erste Mal bewusst wird ihr das, als sie anders als ihre Freundinnen keine Periode bekommt. Doch Phoebe möchte sich nicht einfach so abfinden mit der Geheimniskrämerei ihrer Eltern und der Behandlung als Freak. Sie nimmt eine Kamera und macht sich auf die Suche nach anderen intersexuellen Menschen. Die Verbindung ihrer eigenen Geschichten mit den Schicksalen der Menschen, die sie trifft, macht diesen Film so bewundernswert und schön. Nahezu alle, mit denen die Filmemacherin spricht, haben im Kindesalter operative Eingriffe über sich ergehen lassen müssen, alle haben Ausgrenzung erfahren. Einer davon ist ein ehemaliger Lehrer von Phoebe, die Überraschung ist groß. Viele solcher sehr persönlichen Momente finden sich in dem Dokumentarfilm, von Gesprächen über ihren Kinderwunsch bis zum fast ebenso schwer zur realisierenden Interview mit ihren Eltern. Und am Ende hat man das Gefühl, dass es genau diese Andersartigkeit ist – nicht nur Phoebes, sondern die jedes einzelnen Menschen – die diese Welt so schön macht, wie sie ist. Wenn man offen darüber spricht und sich nicht versteckt oder alles, was anders ist, einfach wegoperiert.


KLEINER FILM MIT GROSSEN TALENTEN: Halbe Portionen

AUS DER MEDIATHEK – ARD +++ vom 4. Januar, online voraussichtlich bis 11. Januar:
Anders sind auch die Charaktere in diesem Film. Dabei muss nicht jeder Film ein Meisterwerk sein. Und bei diesem 45 Minuten langen Kurzspielfilm, die Abschlussarbeit des Regiestudenten Martin Busker, stimmen auch einige Dinge nicht. Der junge Filmemacher sagt, er verarbeitet seine eigenen Erfahrungen aus der Sozialarbeit. Trotzdem bleiben viele Figuren klischeebeladen und die Hartnäckigkeit, mit der der kleine Umut, fantastisch frisch gespielt von Mohammed Aslan, an seinem neuen Freund Luka dran bleibt, wirkt nicht sehr lebensnah. Luka hat gerade seine Mutter verloren. Der offensichtlich schon vorher mit Problemen kämpfende Junge, der sich am liebsten mit einer Sockenpuppe beschäftigt und kein Wort redet, rennt verzweifelt weg, geradewegs in die Arme von Umut. Der hat zwar selbst einigen Ärger, nimmt sich aber des „Psychos“ an, eine ungewöhnliche Freundschaft beginnt. „Halbe Portionen“ schert sich bis zum skurrilen Finale wenig um die Glaubwürdigkeit seiner Geschichte. Viel mehr dafür aber um seine nur schwer ins Leben passenden Figuren. So blickt er tief in ihre Herzen. Das ist mutig für einen Studentenfilm und genau deswegen sehenswert.


GODMOTHER OF STRIPTEASE: Bettie Page

AUS DER MEDIATHEK – arte +++ vom 4. Januar, online voraussichtlich bis 11. Januar:
Dieser Film ist eine Sensation. Bettie Page redet über sich selbst. Nach 40 Jahren kompletter medialer Abwesenheit entschied sich Bettie Page in den 90er Jahren überraschend dazu, ihre Geschichte zu erzählen. Es ist die Geschichte einer Frau, die wie keine andere das popkulturelle Bild des Striptease geprägt hat. Alles was nach ihr kam, wenn es um Pin-Ups und die Inszenierung des weiblichen Körpers für die Kamera geht, ist kaum denkbar ohne sie. Von Madonna über Warhols Factory bis zu den New-Burlesque-Tänzerinnen in Berliner Clubs: Bettie Page war die Zutat, die zum Petticoat und blond-schlüpfrgien Stars à la Marylin Monroe (die selbst viel von Page lernte) noch hinzugefügt werden musste, um den Sex des 20. Jahrhunderts zu kreieren.
Nach einer beispiellosen Justiz-Kampagne prüder Tugendwächter verschwand sie 1957 von einem Tag auf den anderen von der Bildfläche. Jahrzehntelang lebte sie nahezu mittellos überall in den USA, völlig unbemerkt von der Öffentlichkeit. 1993 gab sie ein erstes Telefoninterview, 1996 schließlich erzählte sie ihre Geschichte der NBC-Sendung Real Life, allerdings wieder ohne ihr Gesicht zu zeigen. Auf diesen Tonaufnahmen beruht die Dokumentation, in der zusätzlich auch viele Zeitgenossen und Fachmänner (wie nicht überraschend Hugh Hefner) von Bettie Page und ihrem Einfluss berichten. Durch ihre Wiederentdeckung erlebte Bettie Page noch, wie sie zur Legende wurde, ihr Stil entwickelte sich zum Kult. Einer der Höhepunkte dieser Wiederentdeckung der Sex-Ikone ist übrigens der fantastische und tief feministische Spielfilm „The Notorius Bettie Page“.


TSCHÜSS, KATER HOLZIG: „Tage außerhalb der Zeit“

Heute schließt in Berlin ein Club. Kommt ja alle Tage mal vor, nichts besonderes, mag man denken. Ein bisschen anders ist das in diesem Fall aber schon: Das Kater Holzig ist der Nachfolger der legendären Bar25, die in den Nuller Jahren wie sonst vielleicht nur das Berghain für die Berliner Clubkultur stand. Hier ging man hin, um der Realität zu entfliehen und für viele Nächte und (das macht Berlin immer noch einzigartig) auch viele sonnige Sonntag- oder gar Montagnachmittage zu tanzen, verrücktes Zeug zu treiben und Spaß zu haben. Ein Kindergarten für Erwachsene und ein Paradies zwischen Vaudeville-Zirkus und Techno. Nach dem erzwungenen Ende 2010 konnte viel von diesem Flair auf die andere Spreeseite, in ein riesiges Abrisshaus mit Hof und Spreezugang, gerettet werden – auch wenn viele meinen, dass durch die immer größer werdende Popularität und ein neues Publikum, aber auch die Attitüde der Macher, einiges aus den legendären Zeiten der „Bar“ verloren ging. Wie das dort so aussah, kann man in diesem selbst produzierten „Dokumentarfilm“ sehen. Als Dokumentation ist er ein bisschen schwierig, es handelt sich mehr um „einen hübschen Werbeclip für einen längst geschlossenen Club“, wie die Zeit die mittels Crowdsurfing finanzierte Doku nannte. Ein wirklichkeitsnahes Bild zu vermitteln scheint nicht im Interesse der Macher zu liegen, vielmehr wollen sie einem das (ihr) Lebensgefühl nahebringen. Ob das am Computerbildschirm oder dem Fernseher, ja selbst auf einer Kinoleinwand, funktioniert, muss jeder selbst entscheiden. Doch ihr Kampf um den Erhalt des einzigartigen Ortes enthält einige schöne Momente und das Ende ist schon ein wenig traurig.
Nun ja, nach vier Jahren Exil kann das alte Gelände der Bar25 wieder von den Tanzwütigen bevölkert werden – der Aufkauf des Grundstücks durch eine Stiftung und ein durchdachter Entwicklungsplan mitsamt Club, Ökogärten, Park und Künstlerateliers in nachhaltiger Bauweise machen es möglich. Wenn das Provisorium Kater Holzig also nun schließen muss, ist das kein richtiges Ende.


Teaser by Paulae (CC BY 3.0)

Image by Carolin Saage, Pressefoto „Bar 25 – Tage außerhalb der Zeit“


wanderte schon früh zwischen den Welten, on- und offline. Der studierte Kulturarbeiter arbeitete in der Redaktion eines schwulen Nachrichtenmagazins im Kabelfernsehen, produzierte Netzvideos und stellte eine Weile Produktionen im Cabaret-Theater Bar jeder Vernunft auf die Beine, bevor er als waschechter Berliner nach Wiesbaden zog, um dort am Staatstheater Erfahrungen im Kulturmarketing zu sammeln. Er baute später die Social-Media-Kanäle der Bayreuther Festspiele mit auf und schoss dabei das erste Instagram-Bild und verfasste den ersten Tweet des damals in der Online-Welt noch fremden Festivals. Seitdem arbeitete er als Online-Referent des Deutschen Bühnenvereins und in anderen Projekten an der Verbindung von Kultur und Netz. 


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