In einer Artikelserie untersucht die Kommunikationsberaterin Nina Galla die Wahlprogramme der Parteien auf Auswirkungen für die digitale Kreativwirtschaft. Im dritten Teil blickt sie ins Wahlprogramm der Grünen.
Als ich das Programm der Grünen gelesen habe, bemerkte ich, dass ich hier besonders strenge Bewertungskriterien anlege – aufgrund meiner persönlichen Verbundenheit mit der Partei, aber auch aus der selbst hoch angelegten Messlatte, gemeinsam mit der SPD einen Regierungs- und damit Kurswechsel für Deutschland anschieben zu können.
Die Grünen haben meiner Meinung nach die richtige Vision für unser Land und für unsere Rolle in Europa, die hervorragend zu den Zielen der SPD passt (größtenteils stimmen die Punkte überein) und sich eindeutig vom Programm der Union abgrenzt. Gemeinsame Ziele mit der Linken und der FDP werden ausgeschlossen.
Besonders sympathisch: Gleich zu Beginn gestehen die Grünen ein, dass sie sich in der Vergangenheit auch mal geirrt haben. Das Programm der Grünen zeichnet sich insgesamt durch Weitsicht aus – so zeigt es immer wieder die Kosten unseres Wohlstands für Mensch, Umwelt und Tier auf. Die Grünen in ganz kurz: „Auf Dauer kann nichts wirtschaftlich vernünftig sein, was ökologisch und sozial unvernünftig ist.“
So entschlossen, wie die Grünen Privatleute finanziell angehen, so vorsichtig sind sie dann doch zuweilen gegenüber der Wirtschaft und unklar bei Finanzierungen. Klare Kante ist das oftmals nicht.
Bürgerbeteiligung, Transparenz und Korruptionsbekämpfung werden groß geschrieben, modern sind außerdem die geplante Evaluierung der aktuellen Drogenpolitik, die Idee einer eigenen Kindergrundsicherung sowie eine konsequente Quotenregelung in Wirtschaft und Verwaltung, die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare und das gemeinschaftliche Adoptionsrecht, außerdem soll das Wahlalter auf 16 herabgesetzt werden. Das generelle Tempolimit von 120 km/h auf Autobahnen hat sich ja bereits herumgesprochen.
Die Partei für die Intellektuellen lässt die schwachen Leser zurück
Bei so viel Vision muss der Leser jedoch aufpassen, dass er die konkreten Ideen nicht übersieht. Denn die Textwüste mit über 300 Seiten ist eine Zumutung: Es gibt nur wenige Absätze, kaum optische oder strukturelle Hervorhebungen, die Gesamtstruktur wirkt zuweilen verwirrend und viele Inhalte sind redundant. Das Programm wirkt an vielen Stellen wie ein zusammengebauter Textbaukasten – was es wahrscheinlich tatsächlich ist. Ich durfte selber mal an einem Programm der Grünen mitschreiben und damals wurden die Elemente der einzelnen Zulieferer-AGs nach und nach zusammengefügt. So ergibt sich ein insgesamt unruhiges Textbild.
Die Grünen sehen sich als die Partei der besser Verdienenden Gebildeten und erwarten von ihren Wählern, dass sie sich mit den komplexen politischen Themen auseinandersetzen. Letzteres ist nachvollziehbar – doch wenn der Wähler so klug ist, braucht er dafür keine 300 Seiten.
Zumal das Programm bisher das mit dem breitesten Blick auf die Gesellschaft ist: Migration, Barrierearmut, Frauenpolitik und wenig Gebildete werden als Querschnittsthemen in fast allen Kapiteln berücksichtigt. Gleichzeitig wird ein Teil von ihnen aufgrund des hohen sprachlichen Niveaus im Programm ausgeschlossen. Ein paar Beispiele: Warum der §166 StGB ersatzlos entfallen, der MAD aufgelöst werden und die Ratifizierung und Umsetzung der ILO-Konvention 169 durchgesetzt werden sollte, werden nur die allerwenigsten ohne weitere Erläuterungen verstehen.
Konfliktpotenzial Vorratsdatenspeicherung
Inhaltlich bieten die Grünen (genau wie die SPD) jedoch eine Menge für das netzpolitische und kreative Herz:
- Zugang zum Internet ist Teil der Daseinsvorsorge
- Aufbau eines Universaldienstes und den Ausbau eines flächendeckenden Hochleistungsnetzes (Ziel: Breitbandanschlüsse im zweistelligen Mbit/s-Bereich bis zum Ende der Legislaturperiode)
- kostenfrei nutzbaren und öffentlich zugängliche WLAN-Netzwerke und Überarbeitung der Störerhaftung
- Gesetzliche Verankerung der Netzneutralität
- Stärkung der informationellen Selbstbestimmung
- Unterstützung von Open Access und Open Data im Wissenschaftsbereich
- Lehr- und Lernmaterial unter freien Lizenzen
- Honoraruntergrenzen für alle ausgebildeten Interpreten, Bühnendarsteller und Lehrende ohne Festanstellung in Kunst und Kultur
- Inhaber von Nutzungsrechten sollen die Kreativen auf Verlangen darüber informieren, wie oft ihr Werk oder ihre Leistung genutzt wurde und welche Erträge damit erwirtschaftet wurden
- Möglichst weitgehender Einsatz freier und offener Software im öffentlichen Bereich
- Förderung Green IT (Herstellung und Recycling Hardware, klimafreundliche/-neutrale Stromversorgung von Rechenzentren)
- möglichst weitgehende Barrierefreiheit im Internet
- Ablehnung der Vorratsdatenspeicherung und heimlicher Online-Durchsuchung
- Ablehnung von Drohneneinsatz durch die Polizei zur Observation oder Videoüberwachung vom öffentlichen Raum oder von Demonstrationen
Auf gruen-digital.de informieren die grünen Netzpolitiker regelmäßig über ihre Aktivitäten und stellen sich dem Dialog.
Irritiert lässt mich die Feststellung zurück, dass Kinder im Internet nicht durch Zugangskontrollen oder Sendezeiten vor eventuell gefährdenden Inhalten geschützt werden können. Wer sich noch an das Debakel rund um die gescheiterte Novelle des Jugendmedienschutzstaatsvertrags erinnert, hätte sich hier eine klarere Positionierung mit etwas mehr Reflexion gewünscht.
Beim Thema Vorratsdatenspeicherung hat sich die SPD nicht klar positioniert – wieder mit Blick auf den JMStV hoffen wir einfach mal, dass die Grünen sich im Ernstfall durchsetzen werden.
Zum Schmunzeln: Die nachgesagte Technikfeindlichkeit blitzt bei einer Formulierung auch 2013 tatsächlich noch etwas durch, kann aber dank des ausführlichen netzpolitischen Teils vernachlässigt werden: „Bei Internetgeschäften wollen wir Wildwest-Methoden abstellen“. (Ebenso schmunzelte ich bei „Zum Schutz von Haustieren wollen wir einen Fachkundenachweis einführen.“, denn ohne weitere Erläuterungen muss der Leser annehmen, das gelte auch für Goldfisch- und Wellensittichhalter.)
Gründer kommt bei den Grünen kaum vor, auch das Thema „Sharing-Economy“ hätte noch ausführlicher ins Programm gepasst. „Bei der Einführung der Bürgerversicherung erhalten wir die Prinzipien der Künstlersozialversicherung“ klingt, als solle die KSK abgeschafft werden.
Reanimiert den Rebellen in Euch!
„Zur Demokratie gehören Demonstrationen und Protest, mitunter auch ziviler Ungehorsam“ – huh, ziviler Ungehorsam im Wahlprogramm, das ist Rock´n´Roll! Tatsächlich täte den Grünen nicht nur etwas mehr Präsenz im aktuellen Wahlkampf gut, sondern auch in einigen Punkten wieder eine sperrigere Haltung. Ich wünsche den Grünen, dass sie ihre Rolle als Rebellen wieder finden. Als reanimierte Idealisten mit einer Prise weniger Dogma haben sie mit ihrer politischen Erfahrung und einer verlässlichen Zustimmung in der Bevölkerung das größte Potenzial für ein Systemupdate.
Das jedoch beansprucht bislang die Piratenpartei, die den Grünen die Rebellenrolle abgeknüpft haben und deren Programm ich mich in der kommenden Woche widmen werde.
Teaser & Image by Bündnis 90/Die Grünen
Artikel per E-Mail verschicken
Schlagwörter: BTW13, Bundestagswahl, Bündnis 90/Die Grünen, wahlprogramme
2 comments