Wie realistisch ist der neue ARD Film über Computerspielsucht?

Als ich hörte, dass die ARD einen Film zum Thema Computerspielsucht in Auftrag gegeben hat, wurde ich hellhörig. Nicht zuletzt deswegen, weil Gamer sich seit geraumer Zeit, gerade von Seiten der ARD und ZDF, aber auch einigen Privatsendern, immer wieder negative Berichte gefallen lassen müssen. Gerade in den ersten Jahren der 2000er wurde an Gamern kein gutes Haar gelassen. Die ganze Diskussion fand in Reportagen über „Killerspiele“ ihren Höhepunkt, die angeblich in Zusammenhang mit Gewalttaten von Jugendlichen gestanden haben sollen. Doch auch wenn die Zeiten der reißerischen Berichte zum Thema Gaming überstanden scheinen, wird zum Beispiel in den USA die Ego-Shooter-Branche immer noch gerne als Strohmann genommen, wenn es um die Ursachen von Massenschießereien geht. Aber nun gut, da inzwischen selbst die Bundesregierung sich öffentlich zu Förderung im Bereich Games bekennt, haben die öffentlich-rechtlichen Sender vielleicht auch dazu gelernt.

Im Film „Play“ geht es um ein 17-jähriges Mädchen, das durch ein Werbeplakat von einem VR-MMORPG erfährt, das sie sofort ausprobieren möchte. Nach und nach verliert sie sich immer weiter in dem Game, bis das mehrstündige Zocken in eine echte Computerspielsucht mündet. Auch wenn VR im Moment noch nicht im Mainstream angekommen ist, dürfte die Frage, ob diese Spiele ein höheres Suchtpotential haben als normale Games, bei vielen Eltern im Raum stehen. Die Protagonistin Jennifer gibt zumindest selbst zu, dass der Reiz an dem fiktionalen MMO „Avalonia“ gerade darin besteht, dass man durch eine VR-Brille und Handschuhe komplett in die Fantasy-Welt abtauchen kann.

(Ab hier gilt eine Spoiler-Warnung für den Film)

Sucht bleibt Sucht

Mit einem Narrativ konnte der Film gleich bei mir punkten. Eine Sucht ist eine Sucht und hat auch bei Computerspielsüchtigen viele verschiedene Auslöser. Statt das VR-MMORPG als das Suchtmittel schlechthin zu verteufeln, wird gezeigt, welche Schwierigkeiten Jennifer in ihrem Leben durchzustehen hat. Zu ihrem allgemein geringen Selbstwertgefühl kommt noch hinzu, dass ihre Familie vor Kurzem umgezogen ist. Von ihren Klassenkameraden fühlt sie sich ausgegrenzt und auch ihre alte beste Freundin scheint sich nicht mehr für sie zu interessieren. Jennifer bekommt in der Schule nur noch schlechte Noten und letztlich zieht sie sich immer öfter in die Online-Welt zurück, um wenigstens dort Erfolgserlebnisse feiern zu können. Wie auch bei der Spielsucht oder Drogensucht, führen bei Jennifer mehrere Faktoren zu der Abhängigkeit. Wie viele Suchtkranke, sucht sie einen einfachen Ausweg und schnelle Erleichterung von ihren schwierigen Problemen.

Auch ansonsten geht der Film sehr reflektiert mit dem Thema Computerspielsucht um. In verschiedenen Abstufungen erlebt der Zuschauer, wie Jennifer vor sich selbst erschrickt, als sie merkt, wie sehr sie andere in ihrem Umfeld mit ihrem, durch Computerspielsucht geleiteten, Verhalten verletzt. Die Protagonistin fängt an, Pflichten häufig zu vergessen und sich aus ihrem Sozialleben zurückzuziehen. Dabei passiert das nicht von heute auf morgen, sondern ist, wie auch in der Realität, ein Prozess. Langsam aber sicher gerät sie in die für Sucht typische Spirale, bis sie sich komplett von ihren Eltern, Freunden und Bekannten lossagt.

Technische Umsetzung

Ein Teil des Films ist in der Welt von Avalonia „gedreht“. Hierfür wurde sogar eigens eine Spielwelt programmiert, damit es möglichst real aussieht. Als Gamerin könnte ich mich jetzt beschweren, dass die Details des MMOPRGs nur sehr schwammig ausgearbeitet sind. Die Spieler im Film bekommen zwar Ausrüstung und XP, aber besonders detailreich oder kreativ ist Avalonia nicht. Dabei sind es gerade die großen, faszinierenden Welten, die viele Gamer vor MMOs fesseln. Die vielen verschiedenen Gegner, Geschichten, Völker und Schauplätze. In Avalonia gibt es Bäume, Berge und Bären, Drachen und Orks. Und das war’s dann im Kern auch. Aber nun gut, der Film soll auch keine akkurate Darstellung eines MMORPGs sein, sondern wahrscheinlich eher besorgten Erziehungsberechtigten das Thema der Computerspielsucht näherbringen.

Ein Fast perfekter Film über Computerspielsucht

Im Endeffekt war ich überrascht, wie sensibel der Film mit dem Thema Computerspielsucht umgeht. Statt Klischee an Klischee zu reihen, wird dem Zuschauer realistisch vor Augen geführt, warum gerade Jugendliche anfällig für Spielsucht sind und wie man damit umgehen kann.

Allerdings ist Play leider nicht immer akkurat, wenn es um die konkrete Darstellung von Computerspielsucht geht. Gerade zum Ende hin verfällt Jennifer in einen regelrechten Wahn. Sie hört nicht nur Stimmen aus dem Spiel, was vielleicht irgendwo mit der realistischen Darstellung noch vereinbar gewesen wäre, sondern sie sieht und berührt Figuren aus der fiktionalen Welt. Dabei gehören Halluzinationen nicht zu den Suchtsymptomen, die Abhängige zeigen. Dramaturgisch mag das Sinn ergeben und im Film verdeutlichen, wie sehr sich Jennifer nach und nach selbst verliert. Aber es ist doch etwas unrealistisch, dass sie den Unterschied zwischen Realität und Spiel irgendwann nicht mehr erkennt. Wahrscheinlich hätte mich das auch gar nicht so sehr gestört, wäre da nicht die Endszene gewesen.

Computerspielsucht gerade bei Minderjährigen ein Problem

Nachdem ihre Eltern Jennifer bitten, sich aufgrund ihrer Suchterkrankung in psychiatrische Behandlung zu begeben, läuft sie davon. In einer abgeschiedenen Hütte kann sie dann ihrem Suchtverhalten freien Lauf lassen. Irgendwann spüren ihre Eltern sie jedoch auf. Als ihr Vater vor der Tür steht, packt Jennifer eine plötzliche Panik, der Endgegner aus Avalonia sei hinter ihr her, und sie flieht. Um wenig später im Wald den Schurken mit einem Dolch aus dem Spiel hinzurichten. Nur, dass es in der Realität nicht der Bösewicht war, den sie abgestochen hat, sondern ihr eigener Vater.

Es schien mir, als wolle der Regisseur das Klischee „Gamer sind gewalttätig“ nicht mit einbauen, aber als habe er es am Ende um der Dramatik willen doch getan. Selbst wenn wir als Zuschauer davon ausgehen, dass Jennifer in einer tiefen Depression und einer schweren Sucht hängt, wage ich zu bezweifeln, dass Videospiele jemals die stark halluzinogene Wirkung von illegalen Drogen erreichen können.

Insgesamt kann man der ARD nicht absprechen, dass sie sich weiterentwickelt haben. Aber nicht nur die Computerspielsucht an und für sich ist ein Problem, sondern auch die allgemeine Internetabhängigkeit, davon sind schätzungsweise 270.000 Kindern und Jugendlichen in Deutschland betroffen. Und im Ganzen wird die Thematik realitätsnah und reflektiert dargestellt. Trotzdem ist mir zum Ende hin die kreative Freiheit etwas zu stark ausgeprägt gewesen.

Der Film ist bis Anfang Dezember in der Mediathek der ARD verfügbar.

Weitere Informationen zu Computerspielesucht findet ihr hier.


Image by ARD/ Degeto / Alexander Fischerkoesen

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