Im Umfeld des AKP-Leaks ist WikiLeaks in die Kritik geraten. Die geleakten E-Mails seien von eher geringer Bedeutung, zudem habe WikiLeaks per Social Media Links zu sensiblen Daten Unbeteiligter verbreitet, so heißt es. Die Kritikpunkte sind leider keineswegs komplett neu – und sollten gerade deshalb ernst genommen werden, weil WikiLeaks nach wie vor relevant und wichtig ist. Anderenfalls gefährden die Aktivisten ihr eigenes Anliegen. Damit würden sie uns allen schaden, denn nie waren Whistleblowing und investigativer Journalismus so wichtig wie heute.
Gefeiert für den AKP-Leak
Mit seinem „AKP-Leak“ – der Veröffentlichung von hunderttausenden E-Mails aus dem Umfeld der türkischen Regierungspartei – sorgte WikiLeaks wieder einmal für Schlagzeilen. Die türkische Regierung unter Recep Tayyip Erdogan, daran besteht in der westlichen Welt wohl kein Zweifel, hat einen Leak, der ihre Versäumnisse aufdeckt, mehr als verdient. Zu eklatant sind ihre Menschenrechtsverletzungen und insbesondere ihr Vorgehen gegen die Meinungs- und Pressefreiheit. Wer also dieser Regierung schadet, noch dazu mit einem so demokratischen Mittel wie einem Leak, sammelt kräftig Sympathiepunkte. Der Zeitpunkt, nur wenige Tage nach dem misslungenen – und, wie manche spekulieren, von der Regierung selbst inszenierten – Putschversuch tat sein Übriges: WikiLeaks war wieder in aller Munde.
Kurz nach der Veröffentlichung wurde WikiLeaks von der türkischen Regulierungsbehörde für Telekommunikation gesperrt. Viele Beobachter – darunter NSA-Whistleblower Edward Snowden – sahen diese Sperre, zu deren Umgehung schon bald zahlreiche Tipps kursierten, als Beleg für die Authentizität und auch die Relevanz des Leaks.
Kochrezepte und Spam-Mails
Mittlerweile wird jedoch Kritik am AKP-Leak laut. Die Journalistin Zeynep Tufekci, die nach eigener Aussage gute Kontakte zu türkischen Journalisten und Transparenz-Aktivisten hat, schreibt in der Huffington Post, bisher sei es keinem ihrer Kontakte gelungen, dem Leak tatsächlich bedeutende Informationen über die AKP zu entnehmen. Keine der E-Mails stamme von Erdogan oder seinen engen Vertrauten. Es gebe keinerlei Belege für irgendwelche Rechtsverletzungen in den Nachrichten. Es sei zwar möglich, dass noch etwas auftauche, aber angesichts der Tatsache, dass zahlreiche erfahrene Journalisten und Aktivisten danach bereits seit Tagen suchten, werde das zunehmend unwahrscheinlich.
Die E-Mails, so erklärt Tufekci, seien größtenteils gar nicht von der AKP geschrieben worden. Es handle sich vielmehr um E-Mails an die Partei – und dementsprechend seien die Nachrichten auch von wechselnder und teils eher geringer Relevanz. Der Leak enthalte unter anderem „Kettenmails, Kochrezepte, gute Wünsche zu Feiertagen, Spam-E-Mails, Anfragen nach Jobs, ernsthafte E-Mails, die darum bitten, dass ein Schlagloch repariert oder ein anderes Problem gelöst wird“.
Zugegeben: WikiLeaks behauptete niemals, es handle sich bei dem Leak um interne E-Mails der AKP. Die Aktivisten räumten schon in der Presseerklärung zum Leak ein, dass die verwendete Domain im wesentlichen der öffentlichen Kommunikation diene. Allerdings wurde nicht ausreichend klar gemacht, dass die AKP in vielen Fällen der Empfänger, nicht der Absender der E-Mails war. Zudem präsentierte WikiLeaks die Daten durchaus in einer Form, die nahelegte, dass sich darin inkriminierende Beweise gegen die AKP finden ließen, was ja bislang nicht der Fall zu sein scheint. So bleibt zwar keine direkte Lüge seitens WikiLeaks, aber zumindest ist eine gewisse medienwirksame Trickserei zu konstatieren. Der Leak wurde als deutlich bedeutender hingestellt, als er nach aktuellem Stand tatsächlich ist. Zudem stellt sich die Frage, wo angesichts einer augenscheinlich derart geringen Relevanz des Leaks das öffentliche Interesse an der Veröffentlichung dieser E-Mails zu verorten ist. Bislang scheint es, als nütze dieser Leak niemandem konkret. Dagegen werden die Persönlichkeitsrechte der Korrespondenten durchaus ein Stück weit verletzt, auch wenn es sich bei (unverschlüsselten) E-Mails naturgemäß nicht um ein vertrauliches Medium handelt. Hier wäre der Datenschutz wahrscheinlich höher zu bewerten als die positiven Auswirkungen einer Veröffentlichung.
Persönliche Daten per Social Media geteilt
Im Umfeld des AKP-Leaks, kritisiert Tufekci außerdem, dass WikiLeaks über diverse Social-Media-Kanäle Links zu einem größeren, ebenfalls geleakten Datenpaket verbreitet. Diese aber enthielten „sensible und private Informationen über Millionen normaler Leute“. Vor allem seien in der Datenbank (nach Tufekcis Recherchen korrekte und aktuelle) Adressen und andere persönliche Daten zahlreicher türkischer Wählerinnen hinterlegt. Diese, so befürchtet die Journalistin, müssen nun mit einem erhöhten Risiko von Straftaten wie Identitätsdiebstahl, Betrug und Stalking rechnen. Ihre Verbindung zu den kriminellen Machenschaften der Erdogan-Regierung: keine.
WikiLeaks hat bislang nicht zu den Vorwürfen Stellung genommen, außer, um darauf hinzuweisen, dass die Plattform das Datenpaket nicht selbst geleakt, sondern lediglich weiterverteilt hat. Das ist zwar richtig und wird auch von Tufekci nicht angezweifelt. Es entbindet WikiLeaks aber nicht von einer gewissen Verantwortung. Wer so populär und politisch einflussreich ist wie dieses Projekt, muss besonders darauf achten, was er per Social Media teilt. Das gilt besonders für Menschen, die wie das Team von WikiLeaks für einen zukunftsweisenden Umgang mit Daten und Informationen einstehen.
Neue Vorwürfe, alte Probleme
Die nun gegen WikiLeaks erhobenen Vorwürfe sind nicht grundsätzlich neu. Zwar ist es eine von politischen Gegnern gern verbreitete Lüge, dass die Plattform veröffentlichte Informationen grundsätzlich nicht redigiert. Allerdings passierten beim Redigieren auch in der Vergangenheit schon des öfteren Fehler oder Unachtsamkeiten, wurden persönliche Informationen übersehen oder fanden doch noch unredigierte Versionen der Daten ihren Weg ins Netz. Uneinsichtige bis zynische Aussagen von WikiLeaks-Gründer Julian Assange zu diesem Thema trugen nicht dazu bei, die Bedenken der Kritiker zu zerstreuen. Vor diesem Hintergrund ist die gedankenlose Verbreitung persönlicher Informationen zwar ebenso traurig wie empörend, aber leider nur bedingt überraschend. In dieser Hinsicht muss WikiLeaks dringend seinen Standard erhöhen. Investigativer Journalismus ist mehr als nur das wahllose Veröffentlichen von Informationen. Zu ihm gehört auch eine Verantwortung, der sich WikiLeaks endlich zur Gänze stellen muss: die Verantwortung auch für Unbeteiligte, die durch die Veröffentlichung zu Schaden kommen könnten.
Auch der Wunsch nach dem großen Coup, dem spektakulären Leak, ist nichts Neues und stellte den Aktivisten, allen voran dem bekanntermaßen gern im Mittelpunkt stehenden und als Held auftretenden Assange, schon des Öfteren ein Bein. Die AKP-Mails sind nicht der erste Leak, dessen Bedeutung von WikiLeaks im Vorfeld ein wenig aufgebauscht wurde.
Rückbesinnung auf die bedeutenden Werte
All diese Kritikpunkte sollen keineswegs heißen, dass WikiLeaks schlecht, böse oder irrelevant (geworden) ist oder, wie es einige Kolumnisten andeuten, seine großen Tage hinter sich hat. Im Gegenteil. Die Plattform beweist immer wieder, dass sie nach wie vor politisch Bedeutsames leisten kann, ganz aktuell mit den zu recht gefeierten Leaks über Hillary Clinton und die Parteiführung der US-Demokraten.
Gerade weil WikiLeaks so bedeutsam ist, müssen seine Mitarbeiter und Unterstützer die nun laut gewordene, begründete Kritik ernst nehmen und umsetzen. Die Bedeutung bestimmter Leaks ist nur ein weiterer Grund dafür, ihren medialen Einfluss nicht durch das Hypen weniger relevanter Dokumente zu unterminieren. In Zeiten von Korruption, massiver Überwachung, politischen Lügen und dem Streben der Eliten nach ständig mehr Macht und Kontrolle brauchen wir WikiLeaks nötiger denn je. Seinem Motto „Courage is contagious“ – „Mut ist ansteckend“ – gemäß hat das Projekt die Inspiration für eine ganze Reihe von Akten heroischen Whistleblowings in den letzten Jahren gegeben. Um so wichtiger ist es, dass sich WikiLeaks jetzt erneut vorbildlich verhält, sein mangelndes Verantwortungsbewusstsein und seine Ego-Probleme in den Griff bekommt und sich wieder auf seine eigentlichen Werte besinnt. Denn diese Werte werden wir in den nächsten Jahren gemeinsam verteidigen müssen.
Image „Wikileaks Flag“ by Graphic Tribe (CC BY SA 3.0)
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Schlagwörter: AKP, Datenschutz, Edward Snowden, journalismus, Leak, NSA, Social Media, Telekommunikation, whistleblower, wikileaks, Zeynep Tufekei