Drei bemerkenswerte Beispiele digitaler Transformation, die den Spagat zwischen Individuum und Gesellschaft wagen – und damit zentrale Fragen aufwerfen. Drei Beispiele, die zum Nachdenken anregen, ob und inwiefern wir bei der digitalen Transformation einen Eingriff der Wirtschaft in unser Bildungssystem zulassen wollen. Zum ersten ist das der neue Campus der Cornell Tech University, welcher ein Ökosystem für technologiebegeisterte Studenten bilden soll. Zum Zweiten die Hour of Code, die schon den Kleinen Programmieren näher bringen möchte und zum Dritten die Digitale Agenda der EU.
Warum ist das wichtig? Wie weit darf die Wirtschaft in die Bildung der Gesellschaft eingreifen?
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Eine grosse Lücke klafft zwischen staatlichem Bildungssystem und den Anforderungen am Arbeitsmarkt. Erst recht in Zeiten der digitalen Transformation. Wo wollen wir hin?
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Bildung war schon immer mehr als die Ermächtigung des Menschen. Es reflektiert auch die Machtverhältnisse in der Gesellschaft. Wie geht man damit um?
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Wenn man heute eine Volksbefragung abhielte, wieviel digitale Transformation gewünscht sei: Die Mehrheit würde das Rad wohl zurück drehen. Wo bleiben die konstruktiven Aktionen der Zivilgesellschaft?
1. Beispiel: Das neue Ökosystem rund um die Cornell Tech University in NYC
Die Stadt New York möchte im „War for Talents“ dem Silicon Valley etwas entgegen setzen und hatte dazu vor einigen Jahren einen Wettbewerb ausgerufen, dessen Gewinner ein grosses Areal auf der stadtnahen Roosevelt Insel zur Bebauung nutzen darf.
Es soll entstehen: Ein offener Campus als Magnet für technologiebegeisterte Studierende, die in einer Kombination aus Studium und praxisnaher Entrepreneurship-Schulung gezielt zum Aufbau neuer Startups geführt werden. An denen sich dann die Universität in einem vereinfachten Verfahren ggf. mit Anteilen beteiligen kann.
2011 fiel die Entscheidung zugunsten der Cornell University in Kooperation mit der israelischen Technion University, die Grundlage zu legen für das Silicon Island in NYC. Die Stanford University hatte lange mitgeboten, sich dann aber zurückgezogen, kurz bevor die Cornell University die ersten $350 Mio. eingeworbenen Mittel verkündete. Insgesamt soll das Projekt $2 Mrd. kosten – erste Studierende sind seit 2013 übergangsweise im New Yorker Google-Gebäude bereits aktiv.
Bemerkenswert hier: Die Finanzierung erfolgt weitestgehend über philanthropische, private Stiftungen und Alumnis der Cornell University – die Stadt New York hat nur das Gelände zur Verfügung gestellt. Auf den 74.000 Quadratmetern sollen die ersten Gebäude dann ab Sommer 2017 bezugsfertig sein. Ein Drittel wird von CornellTech bespielt, der Rest steht einem grossen Co-Working-Space, Startups und grösseren Unternehmen zur Verfügung.
Das Studium selbst setzt sich aus einem interdisziplinären Curriculum und projekt-basiertem Lernen in Studio-Atmosphäre zusammen zzgl. einer Vielzahl an Praktikas und Projekten, die mit den unterstützenden, grossen Unternehmen gemeinsam durchgeführt werden. Die Curricula werden von einem wissenschaftlichen und einem unternehmerischen Beirat abgenommen – alles weit entfernt vom hiesigen Anspruch nach Freiheit der Lehre.
Während also in Berlin mit rückwärts gewandtem Blick immer wieder Humboldt angerufen wird, sei es in der Bildung oder beim Stadtschloss-Wiederaufbau, gehen andere Initiativen in der Welt transformativ nach vorne. So war das New Yorker Engagement der Stanforder University intern eher umstritten – es gibt dort Bestrebungen, den nächsten Ableger in China aufzubauen.
Nun kann man reflexhaft argumentieren: Keine Wirtschaft in der Bildung. Dann sind wir beim hiesigen Status Quo, wo zwar jede Menge Drittmittel intransparent fliessen, und damit die Einflussnahmen eher versteckt erfolgen (siehe unseren Talk mit Arne Semsrott von Hochschulwatch.de).
Ich habe zwischenzeitlich meine Zweifel, ob wir nicht deutlich kreativer und innovativer, und das bedeutet transformativ denken lernen müssen. Alle gemeinsam. Oder wir schaffen den Kapitalismus ab – das ginge natürlich auch…
Mein Fazit zu CornellTech, auch wenn man es ambivalent betrachten muss: So sieht aktiv gestaltende Zukunft aus an der Schnittstelle von Urbanität, Bildung, Zukunftsorientierung & Entrepreneurship. Zwar alles ambivalent, aber es passiert was. Sehr sehenswert übrigens ihr Promo-Video – das ist schon sehr cool!
2. Beispiel: Code.org und das gemeinnützige Engagement von Unternehmen
Es gibt aktuell eine grosse Bewegung, jungen Menschen mit kleinsten Lern-Bausteinen den Spass am Coden zu zeigen: Programme, Szenarien, Materialien werden Computer-Lehrenden kostenlos zur Verfügung gestellt, um mit spielerischen Methoden und kindgerechten Programmier-Sprachen mehr Neugierde zu schaffen.
Hour of Code, so nennt sich diese Bewegung, wurde 2013 von der gemeinnützigen, US-amerikanischen Code.org-Initiative ins Leben gerufen und kann sich auf sehr bekannte Sponsoren aus der Computer-Industrie (Bill Gates, Mark Zuckerberg etc.) und der Politik (Bill Clinton, Barack Obama etc.) berufen.
Im Winter 2014 sammelte Code.org über eine Indiegogo-Crowdfunding-Kampagne zusätzliche 5 Millionen Dollar ein, mit dem Versprechen, damit 100 Millionen Schüler_innen und Studierende erreichen zu wollen. Ich selbst hatte einen kleinen Betrag gespendet, weil ich das Projekt gut finde. Man bemüht sich hier, mehr Diversity einzufangen – vor allem auch weniger Privilegierte zu empowern.
Normalerweise beschäftige ich mich nicht mit Bildungspolitik in und für Schulen. Darum kümmern sich genügend andere – genau genommen fast alle anderen, da Bildung vor allem mit Kindern und Jugendlichen assoziiert wird. (Obwohl es den größten Nachholbedarf bei den Erwachsenen gäbe – nicht nur bei den Lehrenden.)
Nun geschah aber folgendes: Aufgrund meiner Netzpiloten-Artikel wurde ich vor einiger Zeit von Microsoft zu einem kurzen Presse-Ausflug zu einem von ihnen gesponserten Hour-of-Code-Event eingeladen. Ich hatte eine Weile mit mir gerungen, da ich wie gesagt a) keinen Schul-Fokus habe, ich mich b) nicht als Journalistin sehe und c) natürlich auch das Problem sehe, unentgeltlich PR für das Unternehmen zu betreiben.
Bei dem Event selbst handelte es sich um ein 3-tägiges Sommercamp im Rahmen der größeren Code your Life-Initiative – und zwar in einer Anlage außerhalb Berlins, die von der Henry-Maske-Stiftung betrieben wird.
Eine Turnhalle irgendwo in der Pampa, umringt von einigen Blockhütten – optimiert für einen jugendlichen Schulausflug. Wie Ihr seht: Ich bin der Einladung gefolgt und dachte mir: Unverbindlich anschauen kannst du es ja mal. Nicht nur Offenheit predigen, sondern auch leben. Ob ich berichten werde, kann ich dann noch schauen…
Ich berichte. Kurz. Immer noch unsicher ob der Ambivalenz des gesellschaftlichen Engagements von Unternehmen in der Bildungspolitik, die natürlich sich selbst damit ins rechte Licht rücken möchten. Und nebenbei über ihr Branding schon sehr frühzeitig eine positive Assoziation auf die Kinder ausüben wollen. (Auch wenn sie es abstreiten.)
Aber wie wollen wir das einordnen? Das derzeitige Bildungssystem ist gnadenlos überfordert mit den Herausforderungen der digitalen Gesellschaft. Nach dem Wasserfall-Modell der Ausbildung von qualifizierten Multiplikatoren, die idealer Weise später die Lehrenden erreichen, wird die Entwicklung viel zu langsam greifen.
Es braucht m.E. einer Vielzahl solch externer Initiativen, um den Menschen eine Idee der modernen Welt und ihren möglichen Beitrag einer konstruktiven Mitgestaltung überhaupt zu bieten. Ob sie nun öffentlich, zivilgesellschaftlich, privat oder in einem Mix finanziert sind:
Die Entscheidung der Nutzung muss den Verantwortlichen an den jeweiligen Positionen obliegen. Hier sehe ich ihren zentralen Job: Sich für die Zukunft zu engagieren – und daran gemessen zu werden, ob sie dazu einen konstruktiven Beitrag geleistet haben.
Also vor Ort – in Stichpunkten:
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82 Kinder
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8 -14 Jahre alt
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aus 5 Modell-Schulen
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verteilt über den Tag: 3mal 90-Minuten Praxis-Einheiten
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an 6 Thementischen mit je 2 Betreuer_innen (in der Turnhalle)
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einen Zeichenroboter mit neuen Zeichnungen programmieren:
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animierte Schildkröten per Programmierung zum Zeichnen bringen
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eigene Twitterwall programmieren
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Simulation entwickeln, um Ameisenvölker gegeneinander kämpfen zu lassen
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einen Miniroboter zum Leuchten bringen:
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ein Minecraft-Spiel programmieren:
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Teams rotieren über die Thementische, sammeln Punkte und befinden sich im spielerischen Wettbewerb
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Ziel: Kinder sollen herausfinden, was ihnen liegt
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halbes Jahr Vorbereitung in der Schule mit bereit gestellten Materialien, um die Grundlagen kennenzulernen
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vor der Tür: Microsoft-Zukunft-Bus mit 120qm aktuellen Technik-Schnickschnack (von 3D-Printer über Hololens-Simulation bis hin zu Games) – der beliebteste Ort in den Pausen:
Wie Ihr seht: Ein Programm, an dem man selbst gerne aktiv teilnähme und auch uns Erwachsenen wohl gut täte, die moderne Welt zu be-greifen. Wirklich beeindruckend, wie die Kinder sich im sozialen Verbund den Herausforderungen stellen und diese auch meistern. (Übrigens: Die Mädels natürlich am besten …)
Ein zurückhaltender Gesamtschul-Lehrer, der mit seiner Klasse an dem Modellprojekt teilnimmt, zeigte sich sehr zufrieden und meinte, auch die schwächeren Schüler_innen, die vielleicht nicht alles kognitiv verstünden, wären aber mit dem Herzen dabei und begeistert. Nach Abwägen des Gewinns für die Schüler_innen versus dem unternehmerischen Branding, was er natürlich auch sieht, denkt er, es lohne sich doch, den Kiddies diese Zukunftsoption zu bieten.
Sein größtes Problem: Wenn er in 2 Jahren in Rente geht, wird sich wohl keiner seiner jüngeren Kolleg_innen des Projekts annehmen. Nicht wegen des Brandings, sondern wegen des individuellen Aufwands, sich in die für sie ungewohnte, digitale Welt hineinzudenken.
Euer Fazit? Bitte unten in die Kommentare.
3. Beispiel: Vielfältiges Engagement für die digitale Agenda der EU
Nachdem ich oben eine urbane und eine gemeinnützige Initiative in Kooperation mit der Wirtschaft vorgestellt habe, die Digitalisierung voranzubringen, wende ich mich jetzt der 3. Handlungsebene zu. Auch in der Politik sind nämlich die digitalen Zeichen der Zeit endlich eingetroffen.
Zwar sprechen hier alle von je Unterschiedlichem. Im nationalen Rahmen kann man die Schwerpunkte und ihre jeweiligen Anhänger_innen in Deutschland grob den folgenden Ministerien zuordnen:
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BMBF: Humboldt & die Bildung im formalen Bildungssystem
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BMAS: Arbeiten 4.0 & die Qualifizierung der Erwerbstätigen
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BMWi: Digitale Bildung & die Förderung kapitaler Startups
Je nachdem, in welchen Kontexten man sich bewegt, stellt man fest: Es existieren kaum Berührungspunkte zwischen diesen Denkgebäuden. Jeder Komplex wird gesondert behandelt. Was nicht nur schade, sondern auch bedenklich ist, da hier kaum Synergien entstehen.
Umso erfreuter war ich, als ich diese Infografik der Europäischen Kommission sah, die zunächst das gesamte Spektrum der notwendigen, digitalen Alphabetisierung in der gesamten Breite dokumentiert.
Vom Kleinkind über die arbeitende Bevölkerung bis hin zu den Senior_innen: Es sind ALLE Menschen gefordert, den digitalen Wandel zu be-greifen, bis man mehr Chancen erkennt als Risiken.
Dazu braucht es an all diesen verschiedenen Baustellen diverse Initiativen, die mithelfen, diesen Wandel zu verstehen und aktiv mitzugestalten. Die Europäische Kommission unterstützt von daher ein breites Spektrum an Projekten und hat dazu eine grosse IKT-Koalition kollaborativer Aktivitäten ausgerufen, die in Kooperation mit der Industrie Bildungsprogramme und Unterstützungsleistungen entwickelt und aufsetzt.
Entsprechend der eher neoliberalen Ausrichtung der EU klingt dies dann im Wortlaut so:
“Unsere Vision: durch die Zusammenarbeit mit Unternehmen in der gesamten Wirtschaft, Bildungsanbietern, Arbeitsverwaltungen, Sozialpartnern und vielen anderen Partnern können wir
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den großen Herausforderungen notwendiger Skills begegnen, die dem Wachstum entgegen stehen;
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dem digitalen Talent in Europa eine Chance zum Gedeihen bieten;
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die Menschen für den Erfolg auf dem Arbeitsmarkt empowern.”
Schauen wir großzügig über das Wording und das wachstumsorientierte Denken hinweg: Will man den gesamtgesellschaftlichen Herausforderungen nachhaltig begegnen, braucht es solch transformativer Ansätze. Das ist das Positive dieser Koalition. Auch NGOs sind übrigens eingeladen, sich aktiv einzubringen.
Den eingeschlagenen Weg der Kommission, hier einerseits auf nationale digitale Koalitionen zu setzen (in 12 EU-Ländern bereits umgesetzt – natürlich nicht in Deutschland und Österreich), andererseits die digitalen Initiativen von derzeit 80 großen Institutionen (von BBC bis Google) laut zu begrüßen, macht grundsätzlich einen vernünftigen Eindruck.
Geschenkt wird modernen, neuen Initiativen dabei natürlich nichts. Auch die EU-Programme im Rahmen von Horizon 2020 sind SEHR technologielastig und wachstumsorientiert angelegt. Es herrscht grundsätzlich ein ähnlicher Esprit wie in deutschen Ministerien. Social Entrepreneurship ist da kaum vorgesehen.
Das nennt man dann übrigens Educational Governance-Politik – es ist ein Austarieren der vorherrschenden Interessenverbände. Wer hier zu leise ist, wird einfach übersehen.
Entsprechend starten wir bei ununi.TV demnächst eine digitale, öffentliche Initiative, um vor allem mit KMUs gemeinsam zu denken, wie notwendige Schritte sehr konkret und transformativ ausschauen könnten: Wie kann man den digitalen Wandel für eigene Innovationen sinnvoll nutzen? Wer über Start und Verlauf informiert werden will, kann sich hier auf die Liste setzen.
Teaser & Image (adapted) by Cornell Tech, Anja C. Wagner, Digital Agenda For Europe
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Schlagwörter: code.org, cornell tech university, Digitale Agenda, Digitale Bildung, Gesellschaft, Innovation, Netzpolitik, Technologie, wirtschaft, zukunft
1 comment
Gerade das zweite Beispiel dieser insgesamt sehr interessanten Darstellungen zeigt für mich das Problem in Deutschland überdeutlich: Es gibt einerseits die großen Berührungsängste, wenn es um Wirtschaftsvertretern etc geht. Andererseits, dass sich (Hochschul)Lehrer nur mit zusätzlichem persönlichen Aufwand solcher Themen annehmen können.
Zudem wird im letzten Absatz auf einen Aspekt hingewiesen, der leider oftmals anders erscheint: Digitalisierung ist keine Frage des Alters.
Vielen Dank