Anfang dieses Monats musste sich der Oberste Gerichtshof der USA Rechtfertigungen zu einem wichtigen Abtreibungsrechtsfall anhören. Genau zu diesem Vorfall schrieb Lizzy Acker, die Online-Herausgeberin der alternativen Wochenzeitung Willamette Week aus Portland, einen Artikel über ein Gesetz aus dem Jahre 1908 aus Oregon, der den aktuellen Fall vor Gericht beeinflussen könnte. Das texanische Gesetz befasst sich mit der Regelung der Anbieter für Abtreibungen.
Gewöhnlich können Kommentare zu Artikeln über Abtreibung schnell gehässig werden, aber überraschenderweise waren die Kommentare für Acker und Willamette Week relativ freundlich gestimmt.
Das lag wohl daran, dass die Zeitung die Plattform Civil Comments für ihre Kommentare benutzt. Civil Comments ist ein Start-Up-Unternehmen aus Portland, das einen respektvollen Gedankenaustausch im Kommentarbereich zwischen der Seite und den Lesern anstrebt. Dies funktioniert mit Hilfe eines Systems, das anhand Crowdsources entscheidet, welche Kommentare veröffentlicht werden. Willamette Week gehört zu den ersten Zeitungen, die diese Plattform für ihre Kommentare benutzt.
Im Kommentarbereich unter ihrem Artikel hat sich Acker mit ihren Lesern auf eine Debatte über Abtreibungsgesetze eingelassen – und obwohl sie sich hartnäckig widersprachen, ist das Gespräch nicht in Beschimpfungen oder Schikane ausgeartet.
Ein Mann kam mit mir ins Gespräch und hat mir seine vollständige Meinung zu diesem Thema mitgeteilt, anstatt mich einfach eine Babymörderin zu nennen, sagte Acker. Und auch ich habe meine Meinungen dazu geäußert. Für mich ist es erstaunlich gewesen, dass man trotz starker Meinungsverschiedenheit ein höfliches Verhalten bewahren kann und das Ganze konstruktiv bleibt. Zumindest ein wenig. Man wird dazu aufgefordert ein bisschen mehr über seine eigene Argumente nachzudenken. Und ich glaube auch, dass die Kommentare länger werden und die Gedanken viel tiefsinniger sind., sagte sie.
Thursday status: arguing CIVILLY with racists in the comments. https://t.co/O4BrwKS1oC
— Lizzy Acker (@lizzzyacker) 17. März 2016
Kommentatoren erhalten zwei zufällige Kommentare von anderen Stellen der Seite und müssen sie in Hinblick auf Qualität und Höflichkeit bewerten. Hierbei wird festgestellt, ob die Kommentare Schikane, Missbrauch oder persönliche Angriffe beinhalten. Der Nutzer wiederum wird gefragt, ob sein eigener Kommentar angemessen ist, bevor er ihn veröffentlicht. Civil Comments stellt zwei Fragen zu jedem Kommentar, sodass die Nutzer gezwungen sind, ihre Meinung zum Inhalt des Kommentars von dessen Tonfall zu unterscheiden.
Dadurch wird die Person effektiv dazu aufgefordert, sich bewusst zu machen: “Okay, das bin nicht nur ich, der etwas ins Nichts hineinruft. Ich kann nicht einfach alles sagen, was ich möchte. Ich muss mich daran erinnern, meine Meinungen respektvoll auszudrücken und Menschen nicht einfach zu beleidigen oder anzugreifen”, sagte mir Aja Bogdanoff, Vorstand und Mitbegründerin von Civil Comments.
Andernfalls wird der Kommentar nicht veröffentlicht. Wenn ein Kommentar wiederholt als unhöflich markiert wird, werden Redaktionsmitglieder aufgefordert, den Kommentator zu überprüfen.
Civil Comments verwendet auch diverse eigene Algorithmen zur Sprachbearbeitung, die das Selektieren durch Crowdsourcing von Kommentaren unterstützen. Durch sie werden bereits im Voraus provisorisch Kommentare genehmigt oder verworfen. Die finale Entscheidung jedoch treffen die Kommentatoren selbst.
Die Algorithmen im Hintergrund wurden dazu entwickelt, einen Missbrauch zu verhindern und die Nutzer davon abzuhalten, das System auszutricksen. Wie sie genau funktionieren, wollte Bogdanoff jedoch nicht weiter ausführen.
Wenn das Design nicht sorgfältig auf Missbrauch und Betrug ausrichtet ist, kann das System schnell dazu führen, noch ungerechter zu sein als der frühere Ansatz, sagte Bogdanoff. Wir stellen sicher, dass wir im Hintergrund ausreichend Missbrauchsprävention eingebaut haben und das System gerecht bleibt. So kann kein Raum entstehen, in dem nur eine Meinung geteilt wird oder erlaubt, dass Personen mit einer bestimmten Auffassung, die Diskussion zu dominieren.
Bogdanoff erzählt, dass einige der Ansicht seien, Civil Comments unterdrücke die Meinungsfreiheit oder würde abweichende Meinungen eliminieren. Sie hingegen schätzt, dass bisher lediglich rund zwei Prozent der Kommentare vom System verweigert wurden.
“Wenn man die Hassreden und persönliche Angriffe herausfiltert, wird sogar eine größere Bandbreite an Menschen und deren Meinungen sichtbar.”, erklärte sie.
Verschieden große Nachrichtenorganisationen versuchen, ihre Kommentarbereiche zu verbessern. Medienunternehmen wie Reuters oder Mic haben Kommentare gänzlich von ihren Seiten verbannt. Andere haben kreativere Maßnahmen ergriffen: Die jüdische Kulturseite Tablet hat sich im vergangenen Jahr dazu entschlossen, Gebühren von seinen Lesern einzufordern, damit diese überhaupt kommentieren können. Andere größere Medienunternehmen wie die New York Times stellen Vollzeitmitarbeiter ein, die sich ausschließlich mit der Regulierung von Leserkommentaren beschäftigen.
Bogdanoff und ihre Co-Gründerin Christa Mrgan haben Civil Comments auf den Markt gebracht, damit es kleinere Medienunternehmen einfacher haben, ihre Kommentarbereiche zu moderieren und Leserdiskussionen auf der eigenen Webseite zu führen. Somit müssen diese nicht mehr auf Plattformen wie Facebook oder Twitter verlegt werden.
Es ist eine Schande, wenn die eigene Leserschaft woanders hingehen muss, um über deine Arbeit zu diskutieren, sagte Bogdanoff.Ich sehe keinen Geschäftsvorteil darin, Menschen von der eigenen Plattform auf eine fremde Seite zu scheuchen. Die Menschen wollen über Nachrichten diskutieren und eine soziale Erfahrung im Bereich Nachrichten erleben. Statt sich Gedanken zu machen, wie man das Geld wieder ausgleichen kann, das durch den verloren gegangen Traffic an Facebook entstanden ist, wäre aus Unternehmersicht ein Angebot für eine überzeugenden Plattform zum Diskutieren auf der eigenen Webseite viel lukrativer.
Civil Comments ist ein Abonnementdienst und wird bislang von zwei Zeitungen aus Oregon in Anspruch genommen: der schon genannten Willamette Week und The Register-Guard, eine Tageszeitung aus Eugene. Civil wird das Geschäft auch auf andere Medienunternehmen auszuweiten, sagte Bogdanoff. Sie fügte hinzu, dass sie sich auf andere lokale Zeitungen sowie größere Blogs fokussieren werden. “Während wir immer weiter wachsen, werden wir versuchen, mit größeren Medienunternehmen und anderen Plattformen und Anbietern ins Geschäft zu kommen”, sagte sie.
Willamette Week hat im Januar zu Civil Comments gewechselt und The Register-Guard folgte ihr im Februar. Vertreter der Zeitungen berichteten, dass innerhalb der ersten Wochen, nachdem sie zu Civil Comments gewechselt hatten, die Anzahl der Kommentare um 25 Prozent gesunken sei.
Aber obwohl die Anzahl der Kommentare zurückgegangen ist, habe sich die Qualität der Kommentare verbessert, so Acker. Es gebe weniger Trolle und der stufenweise Kommentarprozess von Civil Comments hat Spam unterbunden.
Manchmal beschweren sich die Mitarbeiter in meinem Büro darüber, dass es weniger Kommentare geworden sind, sagte Acker. Aber dennoch bleiben unsere Artikel niemals unkommentiert. Es gab vorher tatsächlich Artikel mit Hunderten von Kommentaren, allerdings waren viele von ihnen nur ein Wortwechsel zwischen denselben zwei Personen. Ich glaube nicht, dass die Anzahl der Kommentare direkt mit dem Traffic korreliert. Wenn wir Artikel anbieten, die die Menschen lesen wollen, sind mehr Besucher auf der Seite und es wird auch mehr kommentiert.
Trotz des Rückgangs der Gesamtanzahl an Kommentaren auf der Homepage seiner Onlinezeitung ist der Chefredakteur von Register-Guard Dave Baker optimistisch. Er glaubt, dass der verbesserte Kommentarbereich auch neue Kommentatoren anlocken wird. In der Tat ist die Anzahl der Kommentare wieder leicht gestiegen. The Register-Guard habe vor wenigen Wochen sogar mehr Kommentare gezählt als sie vorher durchschnittlich mit dem Onlinedienst Disqus hatte, sagte Bogdanoff.
“Ich hoffe, dass wir mit der Zeit auch die Personen anlocken, die wir über die Jahre abgeschreckt hatten”, meint er. “Hoffentlich werden sie uns eine zweite Chance geben.”
Acker berichtet, dass Willamette Week Strategien entwickle, die ihre Leserschaft überzeugen soll, das neue System zu benutzen. Die Zeitung hat dafür in einem Artikel auf ihrer Seite für das neue Kommentarsystem geworben. Darüber hinaus versucht Acker, mehr Zeit im Kommentarbereich zu verbringen. Damit kann sie zeigen, dass sich die Atmosphäre im Kommentarbereich verbessert hat. Nichtsdestotrotz ist sie der Meinung, dass es noch dauern wird, bis sich die Menschen an das System gewöhnt haben. Zusätzlich würde es den Prozess beschleunigen, wenn auch andere Seiten in Zukunft das System verwenden würden.
“Das ist Phase 2: Wie vermitteln wir unseren Lesern, dass sie hier willkommen sind und nicht wegen ihrer Ideologie, ihres Körpers oder aus sonstigem Gründen angegriffen werden?”, sagte sie. “Es wird keine Drohungen mehr geben, sondern von nun an wird diskutiert.”
Dieser Artikel erschien zuerst auf “Nieman Journalism Lab” unter CC BY-NC-SA 3.0 US. Übersetzung mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.
Image (adapted) “Comment Alley” by Howard Lake (CC BY-SA 2.0)
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Schlagwörter: Civil Comments, Kommentar, Kommentarbereich, Online-Community