Das Internet wird die Nachrichtenwelt verändern, das wusste man schon vor 16 Jahren. Dem Ausmaß der Veränderungen waren sich die Experten in einem Artikel in der Zeit aber nicht bewusst. // von Hendrik Geisler
“Wer tickert am besten?” fragte Hardy Prothmann, heute Betreiber des Rheinneckarblogs, am 4. Mai 2000 in der Zeit. Welchen Einfluss Online auf Print haben würde, ließ der Journalist von Experten erläutern. Jene, die bei Prothmann zu Wort kommen, trafen mitunter Aussagen, die sich heute widerlegen lassen. Was dachten der Autor und die Medienmacher über die Zukunft des Journalismus?
“Der ‚Gatekeeper‘ Zeitungsredakteur spielt im Netz kaum noch eine Rolle”, schreibt Prothmann als es um das Einbinden von Agenturmeldungen in Online-Angebote geht – und liegt damit vollkommen daneben. Was passiert, wenn Meldungen aufgegriffen werden, ohne vorher einer Einordnung oder Überprüfung unterzogen worden zu sein, ist heute an vielen Stellen zu beobachten. Besonders in sozialen Netzwerken werden Überschriften, ohne diese zu hinterfragen, häufig als Wahrheiten wahrgenommen. Oder Satiremeldungen werden nicht als solche erkannt – wütende Reaktionen folgen, manch einer sieht rot.
Im Jahr 2016 braucht es den Redakteur mehr denn je, im Netz nicht weniger als in der analogen Welt. Um zu erklären, aufzuklären, hinzuweisen, einzuordnen, zu hinterfragen, zu falsifizieren und verifizieren und Diskussionen in Bahnen zu lenken, in denen weder Menschen beleidigt werden, noch falsche Informationen durch LAUTSTARKES TEILEN!!!!! mehr Aufmerksamkeit erlangen als die Tatsachen. Prothmann schreibt über Michel Cremer von Agence France Press: “An eine Automatisierung von Gruppen, die alle unterschiedlich informiert sind, glaubt er nicht: ‚Gerade das Prinzip der Community ist ein zentraler Netzbegriff.‘” Auweia. Konnte man ja nicht ahnen, dass die Selbstregulierung der Community in großen Teilen ausgeblieben ist und die Cliquenbildung zu einer der elementarsten Entwicklungen des Internets wurde. Heute ist jeder unterschiedlich informiert- wenn die Nachrichten nicht gefallen, suche ich mir andere Quellen, da lügen sie auch nicht!
“Wir gewichten natürlich die Nachrichten nach Bedeutung und Themen und schreiben sie für den Verbraucher um”, erklärt Cremer im Artikel. Wie das aussehen soll, wird auch gleich hinterher geschoben. Bei T-Online gebe es vor allem Technikinformationen, die Nutzer der Süddeutschen bekämen vermehrt Politik, eine Prise Wirtschaft, “aber auf alle Fälle Technik” zu lesen, “immerhin ist man ja Surfer”. Ob Prothmann vor 16 Jahren diesen schmunzelnden Satz ernst meinte oder schon augenzwinkernd den Quatsch dahinter kommentierte, entzieht sich meines Wissens. Wer aber heute eine Seite ansteuert, möchte am liebsten das ganze Paket bekommen, im Idealfall aus zig fachen Quellen.
Überfluss an Content durch neue Medien
Aggregatoren sind das Stichwort: Facebook sammelt alles, was der Nutzer lesen möchte, Upday bringt die Top News und einen persönlichen News Feed auf das Smartphone, Eilmeldungen lassen sich zunehmend personalisieren, und und und. Natürlich gibt es auch noch Blogs, die sich mit einzelnen Themen befassen und große Nachrichtenhäuser haben heute keinen Schwerpunkt mehr, Online-Medien zeigen nicht vermehrt Nachrichten über das Internet, weil ihre Nutzer Surfer sind. Das ist heute jeder. Würde ich allerdings einen Jugendlichen fragen, ob er Surfer sei, bekäme ich nur schiefe Blicke. Keiner geht mehr bewusst ins Internet, man ist einfach da, immer.
“Lieferten die Agenturen früher den Rohstoff Information, sollen heute Produkte in allen Veredelungsformen angeboten werden. Text, Infografik, Ton, Bewegtbild oder Flashanimation – der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt.” Stimmt, und doch reicht die Liste für anderthalb Jahrzehnte später nicht mehr aus, um die “Veredelungsformen” aufzuzählen. GIFs, Vines, Snaps, Listicles, Quiz, Podcasts, etc. – es bedarf heute mehr in einem eigenen Artikel, um die Möglichkeiten aufzuzählen. Einfacher hat diese Entwicklung die Aufnahme der Informationen nicht gemacht, auf alle Fälle aber interessanter und abwechslungsreicher. Das ist sicherlich einer der Gründe dafür, dass heutzutage mehr Nachrichten konsumiert werden als jemals zuvor.
Den Vogel schießt Walter Richtberg ab, damals Geschäftsführer der dpa. “Alle Agenturen sind sich einig, dass die Internet-Nachrichten die Zeitungen verändern werden. ‚Die Zeitung wird keine Auflage verlieren, aber ihre Inhalte anpassen müssen‘, prophezeit Walter Richtberg.” Ein mieser Prophet, möchte man sagen. Die Auflagen sind nicht nur gesunken, sie sind eingebrochen. Das hätte auch keine noch so clevere Strategie verhindern können, kein Clickbait, keine Exklusiv-Geschichten, kein überaus intelligenter Hintergrundbericht. Wer damals schon leise geahnt hat, welche Verbreitung das Internet finden würde, hätte auch wissen müssen, dass die Entwicklung der Netz-News nicht stehenbleibt. Rückwirkend betrachtet war ein Auflagenverlust unmöglich zu verhindern. Die Medienhäuser hätten mit einem clever vorausschauenden Auge allerdings besser darauf reagieren können.
Zum Schluss eine Aussage vom Anfang des besprochenen Textes: “Die ersten Meldungen sendete das Radio, dann läuft die Geschichte vielleicht in der Tagesschau, und am nächsten Morgen kann man es in der Zeitung nachlesen.” Schon im Mai des Jahres 2000 war dieser fast schon natürlich erscheinende Gang von Nachrichtenmeldungen Vergangenheit, Prothmann schreibt: “So funktionierte jedenfalls früher die journalistische Nahrungskette.” Dass Nachrichten oft nicht mehr wirklich Neuigkeiten für Betrachter und Hörer der traditionellen News-Kanäle sind, ist auch schon vor 16 Jahren der Fall. Das Internet ist schneller, die Adressaten werden unmittelbar mit den wichtigsten Meldungen erreicht. Heute gilt das natürlich mehr denn je, Schnelligkeit ist ein wichtiger Faktor, bei dem Zeitungen, TV-Sendungen und Radioprogramme immer weniger mit dem Netz mithalten können, besser: chancenlos hinterherhinken.
Der Anker der Ruhe und Reflexion
Für die traditionellen Medien ist das Grund genug, in ihren Print- und Rundfunkprodukten vermehrt auf Qualität als auf den ersten Platz im Sprint um die schnellste Nachrichtenverbreitung zu setzen. Vor allem Zeitungen haben den großen Vorteil, Anfang und Ende klar setzen zu müssen. Ja, der Redaktionsschluss ist nicht immer ein lästiges Anhängsel der alten Zeit. Er kann helfen, die Gedanken zu sortieren. Schafft der Schreiber es, komplexe Zusammenhänge in einem begrenzten Rahmen klar zu vermitteln, hat das mitunter einen gewaltigen Mehrwert. Leser wissen: Das war der Wissensstand zu einem bestimmten Zeitpunkt. Die gedruckte Zeitung ist noch immer ein Anker, der auch im tosenden Sturm der Medien hält, bringt Ruhe und Reflexion in das Tagesgeschehen. Sie kann jedoch nicht mehr als Konkurrenz zum Internet funktionieren, das Rennen ist chancenlos verloren gegangen. Genauso wenig ist das Internet aber zum Ersatz des gedruckten Wortes aufgestiegen. Beides hat seine Vorteile, Schnelligkeit gegen Ruhe des Erklärens, ausschweifende Reportagen mit Fotogalerien, Videos, endlosen Möglichkeiten der Zusatzinformation gegen punktuell wertvolle Betrachtungen zu einem bestimmten Zeitpunkt.
Internet-Nachrichten haben die Zeitungen verändert, sind ihnen auf den Leib gerückt, haben sie bedroht. Setzen Zeitungen aber auf ihre eigenen Stärken werden sie noch lange leben. Wer aber nur an Einsparungen interessiert ist, die Qualität abwandern lässt und das Internet als Vorbild für das Printprodukt sieht, hat heute schon verloren und sollte besser früher als später einpacken. Prothmanns Artikel zeigt dazu auch: Wer davon ausgeht, dass Entwicklungen in der Medienwelt linear vonstatten gehen, wird es nicht schaffen, die Zukunft vorauszudenken und korrekte Prognosen zu treffen. Wer jetzt gefragt ist, sind genau diejenigen, die diese Fähigkeiten besitzen. Jene, die das Unvorhersehbare erahnen können. Vortreten bitte!
Image (adapted) „Hia Tweetup“ by Hani Arif (CC BY 2.0)
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Schlagwörter: Internet, journalismus, Medien, neue, print, Zeitung, zukunft